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Sonja Klimek, Christoph Gschwind

Wozu Lyrikologie? Vom Nutzen der Theorie für die Lyrikforschung (und vom Nutzen der Lyrik fürs Überleben)

Rüdiger Zymner, Funktionen der Lyrik. Münster: mentis 2013. 364 S. [Preis: EUR 46,00]. ISBN: 978-3-89785-820-6.

1. »Wozu Lyrik?«

Lyrikforschung galt lange Zeit als notorisch ahistorisch und theoretisch unterkomplex.[1] Dies würde wohl heute niemand mehr behaupten. In zahlreichen Publikationen der letzten Jahre hat die Theoriediskussion nicht nur in der deutschsprachigen Lyrikforschung[2] – gerade was Kernfragen wie die Gattungsdefinition, aber z.B. auch, was den logischen Status lyrischer Rede angeht – Anschluss gefunden an das theoretische Niveau, das in der Erzählforschung und Dramentheorie vorgelegt wurde.[3] Nicht zuletzt hat auch Rüdiger Zymner mit seinen bisherigen lyrikologischen Arbeiten zu diesem Aufschwung der Lyriktheorie beigetragen.

Der nun erschienene zweite Teil von Zymners groß angelegter Trilogie der Lyriktheorie greift über die basalen Begriffsbestimmungen des ersten Teils, Lyrik. Umriss und Begriff[4], hinaus. Dort hatte der Autor Lyrik (wie Gattungen generell) nicht als »historisch und kulturell stabile Entität […],« nicht als »Naturform« (Goethe) oder steife »Tiefenstruktur«, sondern als »kulturrelativ und historisch flexibel« beschrieben.[5] Das »generisch distinkte« Merkmal der Lyrik sei es, »Sprache im Allgemeinen als ›Konstitutionsort der Humanität des Menschen‹« erlebbar zu machen (vgl. Zymner 2009, 197). Anschließend an seine zugegeben sperrige, dafür aber hinreichend allgemeine Explikation der Lyrik als »graphische oder phonische Repräsentation von Sprache […], welche als generisches Display sprachlicher Medialität fungiert und ästhetische Evidenz prozedural konstituiert« (ebd., 140), kündigte Zymner im Schlusssatz seines Eröffnungsbandes an, bald »im Kontext einer biologisch informierten Philosophie der Lyrik […] deren anthropologischen Sinn zu erörtern« (ebd., 197).

Nichts weniger als eine solche »biologisch informierte Philosophie der Lyrik« bietet nun der hier besprochene Fortsetzungsband Funktionen der Lyrik, der der prononciert biopoetisch formulierten Frage nachgeht: »Wozu Lyrik?«.

Die Frage nach dem »Wozu« zielt auf die »Funktionen«, die zu systematisieren und dann exemplarisch zu illustrieren Zymner in diesem zweiten Band in Angriff nimmt. Dabei zielt Zymners Werk ganz selbstbewusst aufs Ganze: Es handelt sich nicht um eine weitere Einzeluntersuchung zu dieser oder jener Funktion des einen oder anderen Gedichtes oder Zyklus oder Faktur- oder Inhalts-Elements. Das Buch versteht sich vielmehr als anthropologisch ausgerichtete und dabei analytisch-literaturwissenschaftlich fundierte Apologie der Gattung Lyrik überhaupt, die als randständig zu bezeichnen lange Zeit »geradezu zu den Topoi des
Redens über Lyrik« gehörte (19).

2. Terminologische Grundlegung

Zymners neues Buch lässt sich in drei Teile gliedern: Im ersten Teil erarbeitet der Autor ein präzises Vokabular zum analytischen Umgang mit Lyrik in Bezug auf ihre Funktionen. Zunächst unternimmt er dazu eine konzeptuelle Differenzierung von literarischer Produktion und Rezeption, die (i) autonomisiert, professionalisiert, kommerzialisiert und ökonomisiert oder (ii) heteronom, nicht-professionalisiert und nicht-ökonomisiert sein können. Die erste Literatur-Konzeption bezeichnet Zymner als ›Literatur‹, »wie wir sie zuerst in Europa seit ca. 1800 antreffen« (27), die zweite, die »vor, neben und außerhalb« dieser ›Literatur‹ anzutreffen sei, bezeichnet Zymner mit einem Neologismus als »Poetrie« (ebd.) Anhand der systemtheoretischen Unterscheidung zwischen dem Sozialsystem ›Literatur‹ und dem Sozialsystem ›Poetrie‹ proklamiert Zymner eine erweiterte Bedeutungsextension des Lyrik-Begriffs. Lyrik als sprachliches Display und Katalysator ästhetischer Evidenz (so die Bedeutungsintention) ist eben nicht nur in der ›Literatur‹, sondern auch in der ›Poetrie‹ anzutreffen (Kap. 1). Aus diesem Befund ergibt sich dann auch die große Bandbreite der Beispiele im illustrierenden Teil (Kap. 2).

Sodann fasst Zymner zusammen, wie innerhalb der Disziplinen der Literaturwissenschaft, der Philosophie (genauer der philosophischen Ästhetik) und auch im Diskurs der DichterInnen über ihre Werke und sogar innerhalb der Werke selbst (also in selbstreferentieller Lyrik) bisher in zumeist nicht-systematischen Studien die eine oder andere ›Funktion‹ von Lyrik generell oder einzelnen lyrischen Texten und Textgruppen oder Merkmalen dieser lyrischen Texte und Textgruppen behandelt wurde (Kap. 2). In diesen Untersuchungen und ihrer nicht selten unreflektierten Begriffsverwendung sind, so Zymners Befund, die »Stichwörter ›Funktion‹ und ›Funktionen‹« oftmals »kaum mehr als bloße terminologische Joker«, d.h. »Ausdrücke, die man immer gut gebrauchen kann, ohne allzu genaue Vorstellungen von ihrer Semantik zu haben« (75). Aber genau diese intuitive Begriffsverwendung macht die ›Funktionen‹ aus literaturwissenschaftlicher Sicht für Zymner so interessant. Er begibt sich daran, die »retrospektiven Zuschreibungen« (von »distanzierten Beobachtern« auf der ›Metaebene‹, also z.B. von den LyrikologInnen unter den LiteraturwissenschaftlerInnen) sowie die »prospektiven Zuweisungen« (von ›Geschehensteilnehmern‹ auf der ›Objektebene‹ oder »im aktuellen ›Objektdiskurs‹«, also etwa von LyrikerInnen, LeserInnen oder sonstigen Usern graphisch oder phonisch repräsentierter Lyrik) von Funktionen der Lyrik als ganzer oder aber gewisser Teile ihrer Faktur und/oder Information oder einzelner Textgruppen zu unterscheiden (Kap. 3).

3. Zum Korpus der behandelten Textbeispiele

Dieser erste Teil (Kap. 1–3) verlangt dem Leser viel Konzentration und Abstraktionsvermögen ab. Erst nach 80 Seiten begriffstheoretischer Grundlagenarbeit wird die erste Beispielanalyse geliefert. Anhand einer Hölderlin-Interpretation verdeutlicht Zymner hier den historischen Wandel von Funktionszuweisungen und -zuschreibungen an Lyrik (den Wandel ihrer »potentiellen Dienlichkeit« (84) (Kap. 3.3)). Nach dem hohen begrifflichen Aufwand mutet diese Beispielstudie zur Hölderlin-Rezeption fast schon konventionell an. Auch stammt der Gegenstand dieses Beispiels, Hölderlins sechsstrophige Ode »Der Tod fürs Vaterland« und die ihr vorausgehende ältere Ode (oder Fassung?), »Die Schlacht« in acht Odenstrophen, aus dem üblichen Kanon germanistischer Höhenkamm-Literatur. Zymners weiter Lyrikbegriff, der eben sowohl literarische Lyrik als auch Lyrik aus dem Symbolsystem »Poetrie« umfasst, kommt bei diesem ersten Beispiel (noch) nicht zum Tragen. In der Auswahl seiner weiteren Beispiele beweist Zymner dann jedoch, dass er seine grundsätzlichen Überlegungen eben doch vor dem Hintergrund eines prinzipiell weltliterarischen (und ›welt-poetrischen‹) Korpus erarbeitet.

Zymner beschränkt die Menge der »Gattung Lyrik« nicht nur auf diejenigen ihrer Elemente, die der durchschnittliche Bildungsbürger aus seinem Kanon ästhetisch ambitionierter Literatur Europas und Nordamerikas ohnehin schon kennen mag, sondern er greift bewusst über das Vorwissen seiner LeserInnen hinaus, in frühe oder entlegene Bereiche der Lyrik, in die Weltliteratur, aber auch in die Poetrie. Dabei löst Zymner im illustrierenden Hauptteil (Kap. 4.1.) seinen eigenen Anspruch, »Spezielle Funktionen« der »Lyrik als – vor allem: graphische oder phonische – Repräsentation von Sprache« (7) zu behandeln, notgedrungen nur halb ein: Sieht man von dem Beispiel des Jacques-Brel-Chanson (242–246) ab, so geht es bei Zymner leider nie um ›phonisch‹ repräsentierte Lyrik, und selbst das Chanson kann von Zymner auf den Seiten seines Buches – natürlich! – nicht hörbar gemacht werden, sondern die akustische Interpretation durch Sänger und Musiker wird nur in zwei knappen Sätzen (246) umschrieben. Zunächst unterzieht der Verfasser jedoch, nach dem Abdruck der lyrics, den schriftlichen Liedtext (242–244) einer klassisch rhetorisch–stilistischen Gedichtanalyse, als handele es sich bei »Ne me quitte pas« um ein graphisch repräsentiertes Kunstwerk. Ein solches Verfahren ist nicht unüblich, wenn LiteraturwissenschaftlerInnen sich populären Liedern zuwenden. Dem chanson als Ganzem wird es natürlich nur halb gerecht, was insbesondere im Licht der in Zymners Schlusskapitel ausgesprochenen Thesen eigentlich schade ist.

Doch nicht nur Freunde der Populärkultur, auch die Verfechter eines dezidiert ›gehobenen‹ Kanons lyrischer Kulturgüter werden bei Zymners Beispielauswahl auf ihre Kosten kommen: Günthers Barock-Lyrica (235ff.) finden ebenso Eingang in die Überlegungen wie Dauthendeys fin de siècle-Poesie (256f.) oder Brechts politische Lyrik (214ff.). Und nicht nur typisch germanistische Beispieltexte, auch ein komparatistischer Groß-Kanon wird von Zymner in den Blick genommen: von den Carmen des Horaz (61f.) über Petrarcas »Canzoniere« (120ff.) bis hin zum darauf aufbauenden romanischen, zum elisabethanischen (130ff.) und schließlich zum deutschsprachigen Petrarkismus (125ff) spannt sich der zeitliche Bogen, Nach- und Umdichtungen des Hohelieds von Hans Sachs, Martin Opitz und Heinrich Heine bis zu Peter Rühmkorf (149ff.) werden berücksichtigt, Shakespeares Sonette (172ff.), Rimbauds Gesamtwerk (138ff.), ein Nazi-Propagandalied (34f.) ebenso wie diverse Beispiele für KZ-Lyrik (237ff.), finnische Volksdichtung (168f.), alemannische Mundart-Lyrik (168f.), moderne protestantische Kirchenlieder (250f.), ganz alltägliche Beispiele für nicht-literarische Gebrauchs-Lyrik (wie Glückwunsch-Gedichte, Vereinshymnen oder Kinderverse) kommen ebenso vor wie Kuriositäten (etwa altägyptische Sarkophag-Inschriften, wohlgemerkt: an der Innenseite des Sarkophags angebrachte! (248)).

In ihrer Heterogenität können diese Beispiele aus Welt-Literatur und Welt-Poetrie der letzten 4000 Jahre irritierend wirken, und tatsächlich wünscht man sich bei der Lektüre von Zymners Buch das ein oder andere Mal ausführlichere Begründungen für die Auswahl der Beispiele. Doch zeigt gerade diese extreme Breite den hochgesteckten Anspruch des Verfassers auf, eine Theorie der Funktionen von Lyrik zu entwickeln, die wirklich universell anwendbar ist.

Aus methodologischer Perspektive mag Zymners Vorgehen fragwürdig sein. Er geht nicht induktiv, sondern deduktiv vor, wenn er ein Schema, das er weder herleitet noch in seiner Abgeschlossenheit begründet, lediglich durch die heuristische Anwendung plausibilisiert und weiträumig illustriert. Das ist dem Autor jedoch völlig bewusst: Gerade die von Schmücker übernommene Auflistung der »speziellen Funktionen der Lyrik« bezeichnet Zymner im Schlussabsatz seines Buches freimütig als von ihm nur »exemplarisch und summarisch behandelt« (314).

Rein quantitativ weist Zymner dem Dichter Thomas Kling die größte Prominenz zu (187–210), sei dieser doch, so der ansonsten mit Wertungen zurückhaltende Zymner, »nach meinem [d.h. Zymners] Dafürhalten einer der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker, dessen Rang vielleicht nur mit dem Rang eines Hölderlin, eines Benn oder eines Celan zu vergleichen ist« (210).

4. Anthropologie der Lyrik

Im letzten Kapitel (Kap. 4.2.) geht Zymner der Frage nach den ›Generellen Funktionen‹ von Lyrik im Sinne einer biologisch informierten Literaturwissenschaft mit einer evolutionstheoretischen Rekonstruktion des phylo- und ontogenetischen Ursprungs von Lyrik nach und sucht entsprechend nach ihren (über-)lebenswichtigen Funktionen (»Wozu Lyrik?«). Zymners These lautet zunächst, dass bei jedem einzelnen Menschen die pränatale Verbindung von emotionalen Erlebnissen (im Hormonaustausch via Nabelschnurblut von der Mutter oder z.B. in der Wahrnehmung ihrer erhöhten Herzfrequenz) mit rhythmisch-prosodischen Erfahrungen von Sprache (die das Kind natürlich noch nicht als Zeichensystem erkennen kann) und Bewegungen gewisse ›Bausteine‹ für später auszuprägende »Kompetenzen bereitlegt« (vgl. 297). Eine solche wäre z.B. die »soziale Kompetenz« der intuitiven, prärationalen und nichtpropositionalen Einschätzung von Situationen und von eigenen Zuständen. – Das erscheint im Lichte der heutzutage allgemein anerkannten Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, die schon längst die Bedeutung pränataler (Vor-)Prägung für spätere Verhaltensoptionen erforscht, zumindest nicht unplausibel.

Zu den »protolyrische[n] Kompetenzen und Komponenten« (301) gehört für Zymner des Weiteren auch die Idiolalie des Säuglings und seine prosodisch-phonologische Fähigkeit der Wahrnehmung von Erlebnisqualitäten (vgl. 304). All dies sind nun »poetogene Dispositionen« (ebd.), die nicht erworben werden (etwa durch Lernen), sondern die genetisch in jedem Menschen angelegt sind.

Zymners Ausführungen zielen also auf »anthropologische Universalien«: Wo lag im Laufe der Phylogenese des Homo sapiens der evolutionäre Vorteil »protolyrischer Kompetenzen«? Wieso hat der Mensch die Anlage zur Ausprägung solcher ›Bausteine‹ in den Genen? Zymner identifiziert drei »ultimate Funktionen« dieser »protolyrischen Kompetenzen und Komponenten« (302f.): (i) Stressreduktion (Suggestion der Kontingenzbewältigung), (ii) Vorbereitung und Kalibrierung des Spracherwerbs (und somit Ermöglichung sozialer Interaktion und exosomatischer Informationsverwaltung) sowie (iii) intuitive Selbst- und Welteinschätzung.

Die These, Kunst im Allgemeinen und Literatur im Speziellen hätten eine stressreduzierende Funktion und seien deshalb aus evolutionsbiologischer Perspektive gewissermaßen ›überlebenswichtig‹, hat bereits Eibl in seiner biopoetischen Programmschrift »Animal Poeta« stark gemacht.[6] Dass Zymner Eibl an dieser Stelle mit keinem Wort erwähnt, könnte darauf hinweisen, dass die Stressabbau-These mittlerweile zum biopoetischen Konsens gehört und sich die Frage ›Wer hat’s erfunden?‹ daher erübrigt.

Sodann schaut Zymner im Kapitel »Von der Protolyrik zur Lyrik« statt auf die Phylo- auf die Ontogenese und zeichnet den Weg vom »Lallen des Säuglings« bis zum »großen Lalula« des Erwachsenen nach, also von den Anfängen rhythmisch-prosodischer Sprachverwendung im ersten Lebensjahr bis hin zur Alltags-Poetrie oder eben auch in Einzelfällen zur Kunst-Poesie (wobei beide Varianten der Lyrik eben durch gewisse Formen des Making-Special »den profanen Alltag überragen« (306)).

Durch genetisch angelegte Bausteine kommt der Mensch also als »Spezialist für temporal organisierte Geräusche und Laute« zur Welt (305). Die Verbindung von temporal organisierten Lautäußerungen etc. und Erlebnissemantik wird nachgeburtlich kulturell gepflegt (vgl. 306) und führt zu der Hervorbringung von Liedern, Sprüchen, Gebeten als den ältesten Formen extra-, para- und präliterarischer Poetrie in Form phonischer Lyrik (vgl. 307). Solche Formen von Poetrie hervorbringen zu können ist die von Zymner rekonstruierte ›proximate Funktion‹ der poetogenen Dispositionen des Menschen.

Im 4. Kapitel kokettiert der Autor ein wenig mit seinem Leser, denn weder die Kapitelüberschrift »4.1. Spezielle Funktionen. i love concrete« noch »4.2. Generelle Funktionen. Das große Lalula« werden als Zitate aus Gedichten Jandls bzw. Morgensterns nachgewiesen. Zymners ›idealer Leser‹ mag diese Zitate erkennen, empirische Leser müssen sie evtl. nachschlagen.

5. Abschließende Beurteilung

Endlich liegt ein begriffstheoretisch fundiertes Werk vor, das nicht mit dem notwendigerweise beschränkten Blick der Einzelphilologie an die Lyrik herangeht und auch nicht die ein oder andere, allgemeine oder spezielle Funktion von Lyrik oder Elementen lyrischer Faktur untersucht, sondern sich mit Blick auf Lyrik weltweit und zu allen Zeiten an eine grundlegende Erforschung ihrer Funktionen herantraut. Dieser Anspruch ist gewagt. Zymners Buch ist im ersten Teil begriffsanalytisch sauber, im zweiten Teil mag es dem ein oder anderen in seiner Breite schon etwas überambitioniert vorkommen (aber ambitioniert will es ja gerade sein!), und spätestens im dritten Teil hebt Zymner im typischen Vokabular und ausgehend von den Grundannahmen der Biopoetik auf derart allgemeine anthropologische Grundlagen der Lyrik ab, dass ihm Widerspruch aus der Fachwelt gewiss sein wird. Zymner scheut diese Debatte indes nicht. Sein Buch ist nicht zahm, es will kontrovers sein und ebenso diskutiert werden. Schon der Mittelteil von Zymners Trilogie der Lyrikologie will – immer auf dem Fundament begrifflich abgesicherter Fachsprache – über das bisher in der Lyriktheorie Geleistete hinausgehen. Dazu gehört eben auch die extreme Bandbreite seiner Beispiele.

Die Beispielanalysen selbst (die als Kapitel 4.1. mit knapp 200 Seiten den Hauptteil des Buches ausmachen) sind literaturwissenschaftlich aufschlussreich und stets auf höchstem Niveau, doch fallen sie – im Gegensatz zur analytisch-klaren bis zuweilen staubtrockenen Sprache des Theorieteils mit ihren nicht selten unelegant-präzisen Formulierungen[7] – durch manchmal etwas blumige Ausdrucksweisen auf: Was z.B. meint »rhetorisch breit instrumentiert […]« (158) in Bezug auf ein Gedicht Gottfried August Bürgers?

Da die literaturwissenschaftlichen Grundbegriffe so präzise expliziert und angewendet werden, fällt die Metaphorik der Begrifflichkeit in einigen Beispielanalysen besonders auf. So geht etwa die metaphorisch-anschauliche Beschreibung einer »›Wir‹-Lyrik« (240) anhand suggestiver Metaphern-Komplexe aus dem Theaterbereich zuweilen auf Kosten einer begrifflich-präzisen Bestimmung der Sache selbst. Und gerade im letzten Kapitel wird die in der Biopoetik verbreitete Metaphernsprache aus dem Bereich der Technik von Zymner extrem gehäuft verwendet: Lyrik (übrigens auch als ›phonisch‹, nicht nur als »graphisch repräsentierte Sprache«, (vgl. 7)) ist nicht nur ein ›Display‹, auch dient die »protolyrische Kompetenz« der »Kalibrierung des Spracherwerbs« (302), »lyrische Formatierungen« (295) beruhen als eine evolvierte, d.h. fürs Überleben der Gruppe und des Einzelnen relevante Praxis, auf der »bereits pränatale[n] ›Verdrahtung‹ von rhythmischen und lautlichen Reizen einerseits und Emotionsprogrammen andererseits« (298). Zymner selbst verwendet diese Metaphern z.T. in Anführungszeichen und signalisiert damit, dass ihm bei dieser technokratischen Ausdrucksweise selbst nicht ganz wohl ist, dass er sich ihrer quasi behelfsweise vorerst noch bedienen muss, solange die empirisch-kognitionswissenschaftliche Literatur- und Wirkungsforschung noch an der Bereitstellung eines präziseren Analyseinstrumentariums arbeitet. Trotz dieser terminologischen Problematik ist es Zymner mit diesem Buch gelungen, der Literaturwissenschaft die Instrumente zur Analyse der diversen Funktionen von Lyrik zur Verfügung zu stellen.

Zymners Untersuchung schließt mit einem dieser großen Schlusssätze, wie man sie noch vom mittlerweile verstorbenen Harald Fricke im Ohr hat: Für Fricke bedeutete Kunst die Freiheit vom Gesetz der Zeitlichkeit (und somit von der Zwangsläufigkeit des Todes), in bewusster Einordnung in jene philosophisch-ästhetische Tradition der Auffassung von Kunst als zeitaufhebendes bzw. zeittranszendierendes Medium[8], der so namhafte Philosophen wie Kant, Frege oder Wittgenstein Vorschub geleistet haben.[9] Unter Rückgriff auf Hilde Domin (»MACH MAL PAUSE / lies / Lyrik«) und Durs Grünbein (»Gedichte« als »Gefäße des Metaphysischen« (vgl. 64f.)) spricht nun Zymner im Schlusssatz seines Buches der Lyrik die generelle Funktion zu, dass durch sie »die Zeit in einem JETZT stillzustehen scheint« (314).

Anmerkungen

[1] Vgl. Dieter Lamping, Vorwort. In: Ders. (Hg.), Handbuch Lyrik, Stuttgart 2011, IX. [zurück]

[2] Man beachte etwa Eva Müller-Zettelmann/Margarete Rubik (Hg.),Theory Into Poetry: New Approaches to the Lyric, Amsterdam/New York 2005, oder kürzlich Virginia Jackson/Yopie Prins Hg.), The Lyric Theory Reader: A Critical Anthology, Baltimore 2014 (vgl. vor allem das Vorwort). [zurück]

[3] Vgl. Burkhard Moennighoff, Über den Reiz der Lyrik. (Rezension zu: Rüdiger Zymner, Lyrik. Umriss und Begriff. Paderborn: mentis 2009). In: JLT online (28.09.2010). Link: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0222-001178. Hier Unterkapitel 1. [zurück]

[4] Rüdiger Zymner, Lyrik. Umriss und Begriff, Paderborn 2009. [zurück]

[5] Ebd., 191. [zurück]

[6] Vgl. Karl Eibl, Animal Poeta. Bausteine der biologischen Kultur-und Literaturtheorie, Paderborn 2004 (= Poetogenesis. Studien und Texte zur empirischen Anthropologie der Literatur), 310–319. [zurück]

[7] Zymners Explikation der Lyrik als „graphische oder phonische Repräsentation von Sprache […], deren generisch distinkte Besonderheit darin zu sehen ist, ein Display sprachlicher Medialität und dabei ein Katalysator ästhetischer Evidenz zu sein“ (S. 7), zwingt zwar zu keinerlei „Definitionsopfern“ (Moennighoff 2010 (Anm. 3), 1. Unterkapitel), ist aber in Bezug auf Griffigkeit und intuitive Verständlichkeit nicht zu vergleichen etwa mit Lampings griffiger „Minimaldefinition“ vom lyrischen Gedicht als „Einzelrede in Versen“ (Dieter Lamping, Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung. 2. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993. S. 63). [zurück]

[8] Vgl. Harald Fricke, Versuch über Kunst, Zeit und Tod. In: Unsterblichkeit. Vom Mut zum Ende. Hrsg. von Dimiter Daphinoff und Barbara Hallensleben. Heidelberg: Winter 2012. S. 121-139. [zurück]

[9] So behauptete etwa Frege in seiner Untersuchung „Der Gedanke“ (1918) ein außerhalb von Zeit und Raum angesiedeltes ‚Reich der Gedanken‘. Vgl. Gottlob Frege: Der Gedanke. Eine logische Untersuchung. In: Ders.: Logische Untersuchungen, hrsg. von Günther Patzig. 5. Aufl. Göttingen 2003. S. 35–62. [zurück]

2014-06-17

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Sonja Klimek, Christoph Gschwind, Wozu Lyrikologie? Vom Nutzen der Theorie für die Lyrikforschung (und vom Nutzen der Lyrik fürs Überleben), (Review of: Rüdiger Zymner, Funktionen der Lyrik. Münster: mentis 2013.)

In: JLTonline (17.06.2014)

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