Tom Kindt

Jan Borkowski

Vom Anfangen

Grundfragen der Literaturtheorie

Jan Urbich, Literarische Ästhetik. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2011. 319 S. [Preis: EUR 17,90]. ISBN: 978-3-8252-3543-7.

Wenn man den Begriff ›Literaturtheorie‹ hört oder liest, dann dürften viele – zumal Studierende – häufig zu allererst an Literaturtheorien in der Mehrzahl denken und darunter Ansätze oder Positionen verstehen, wie sie seit dem russischen Formalismus in großer Zahl entwickelt und diskutiert wurden: strukturalistische, semiotische oder poststrukturalistische Positionen, leserorientierte Modelle wie die Rezeptionsästhetik oder die Cognitive Poetics, sozialgeschichtliche, systemtheoretische oder kulturwissenschaftliche Ansätze, die empirische Theorie der Literatur – um nur einige wenige zu nennen. Außerdem würde man auf maßgebliche Vertreter dieser Positionen verweisen wie Jakobson und Genette, Barthes und Kristeva, Jauß und Iser, Bachtin und Siegfried J. Schmidt. Und es würden einem Namen maßgeblicher Anreger einfallen wie Saussure, Derrida und Foucault, Luhmann und Bourdieu, Geertz und Said, die für Bezugstheorien und Rahmenannahmen der verschiedenen literaturtheoretischen Ansätze einschlägig sind.

Was dabei nicht immer mit hinreichender Klarheit bewusst wird, ist der Umstand, dass alle diese Positionen und Ansätze, so unterschiedlich sie jeweils sein mögen, nicht nur, aber zumindest auch Aussagen machen oder implizieren, die recht grundsätzlicher Natur sind; Aussagen, welche zu einer Literaturtheorie-im-Singular gehören. Es handelt sich dabei um Vorstellungen davon, was Sprache und was ein Text ist, wie ›Literatur‹ begrifflich und sachlich zu bestimmen ist; es handelt sich um Fragen der Bedeutungs- und der Interpretationskonzeption und um die Bestimmung von Grundbegriffen wie ›Text‹ und ›Kontext‹; es geht um den Stellenwert, welcher Autoren und ihren Intentionen, Lesern und dem Rezeptionsprozess, Leitkategorien wie ›Gesellschaft‹, ›Kultur‹ oder ›Natur‹ zugewiesen wird. Grundfragen dieser Art spielen in allen literaturtheoretischen Ansätzen eine Rolle, auch wenn sie mitunter nicht eingehender behandelt werden. Sie werden (implizit) unterschiedlich beantwortet, sodass Uneinigkeit in literaturtheoretischen Fragen immer auch Uneinigkeit in Grundfragen wie diesen bedeuten kann – und häufig genug bedeutet.

Jan Urbich hat mit Literarische Ästhetik ein Buch vorgelegt, welches sich einigen dieser Grundfragen widmet. Es wendet sich an Studierende und verfolgt, wie es der Titel unmissverständlich anzeigt, ein spezifisches, nämlich ästhetisches Projekt hinsichtlich einer Literaturtheorie-im-Singular.

Ziele und Konzeption

Literarische Ästhetik ist dezidiert ein »Lehr- und Seminarwerk« (12), geschrieben zu dem Zwecke, dass »der Leser auf dem Gebiet der Literaturtheorie anfangen kann anzufangen« (11). Damit ist gemeint, dass es sich um eine Einführung handeln soll, die weder in »Posterform« aufbereitetes Wissen zum Auswendiglernen bietet noch »für den Leser denkt«, sondern »Fragehorizonte« eröffnet und die in diesem Zusammenhange erforderlichen »Begriffsgeschichten« aufzeigt (alle Zitate 10, Hervorhebungen i.Org.).

Das Anliegen ist also ein didaktisches, und dies in durchaus ambitionierter Weise, geht es doch nicht (allein) darum, reproduzierbares Wissen bereitzustellen, sondern um etwas viel Grundlegenderes, nämlich um eine »Denkanleitung« (26), welche die LeserInnen zur eigenständigen Reflexion literaturtheoretischer Probleme befähigen soll.

Eingerahmt von Bemerkungen dazu, was hier unter ›literarischer Ästhetik‹ zu verstehen ist (Kap. 1 und 2), und einem Kapitel, das Ausführungen zum Verhältnis von Ästhetik und Literaturtheorie enthält sowie eine Diskussion des Literaturbegriffes (Kap. 14), behandelt Urbich in elf Kapiteln eine Auswahl literaturtheoretischer Grundfragen. Den Anfang machen ontologische Überlegungen zur Existenzweise und zu den Identitätsbedingungen von Literatur (Kap. 3), gefolgt von Erörterungen der semiotischen, semantischen und medialen Dimension literarischer Texte (Kap. 4–6). Es geht unter anderem darum, ob es eine spezifisch literarische Verwendung von Zeichen gibt, wie die Bedeutung von Literatur unter besonderer Beachtung ihrer formalen Beschaffenheit aufzufassen ist und welche Wirkungspotentiale die Medialität literarischer Texte hat. Sodann wird Literatur als ›Kommunikationsgeschehen‹ zwischen Autor und Leser in den Blick genommen (Kap. 7) und der durch ›Mimesis‹ und ›Fiktionalität‹ bezeichnete Wirklichkeitsbezug der Literatur untersucht (Kap. 8). Der Umgang mit Literatur wird anhand zweier Zugangsweisen dargestellt, nämlich der subjektiven, bei der Erleben und Erfahrung im Mittelpunkt stehen (Kap. 9), und der intersubjektiven, die Verstehen und Interpretation zum Ziel hat (Kap. 10). Die Begriffe ›Nachahmen‹, ›Spielen‹ und ›Symbolisieren‹ eröffnen eine anthropologische Perspektive auf Literatur (Kap. 11), bevor Funktionen diskutiert werden (Kap. 12). Den Abschluss bildet eine Skizze der para- und intertextuellen, sozialen und kulturellen, generischen und historischen Kontexte (Kap. 13).

Die Auswahl der behandelten Aspekte ist sicherlich intuitiv einleuchtend. Zudem wird in der Regel zu Beginn des jeweiligen Kapitels kurz erläutert, dass und warum das jeweils Behandelte wichtig ist. Der Gesamtzusammenhang zwischen den einzelnen Kapiteln ist durch das Ziel motiviert, das Spezifische der Literatur, ihre »ästhetische Differenz« zu anderen Formen der Sprachverwendung in theoretischer Hinsicht herauszustellen (296).

Das Projekt einer literarischen Ästhetik

Urbich versteht unter der ›literarischen Ästhetik‹ die »Grundlagentheorie der Literatur« (20). Sie sei Theorie, insofern ihre Aussagen über den Objektbereich ›Literatur‹ begründbar, differenziert und systematisch sein und einen »kohärente[n] Frage-, Begriffs- und Urteilszusammenhang« bilden sollen (ebd., i.Org. kursiv). Sie beschäftige sich mit Grundlagen, insofern sie »die vormethodischen Fragehorizonte des Gegenstandes« zu ihrem Thema habe (ebd.), die von verschiedenen literaturtheoretischen Ansätzen vorausgesetzt würden. Diese theoretische Beschäftigung mit Literatur erfolgt aus ästhetischer Sicht. ›Ästhetik‹ meint unter Rekurs auf Hegel eine Disziplin, »die sich um die begrifflichen Grundlagen der Kunst kümmert« (41). Es handelt sich also um eine kunstphilosophische Perspektive; sie ist hinsichtlich literarischer Texte konturiert (vgl. ebd. und 23).

Unter den Begriff ›Literaturtheorien‹ fallen nach Urbichs Auffassung »Theorien, die sich seit den 50er Jahren des 20. Jh. entwickelt haben (Hermeneutik, Psychoanalyse, Strukturalismus, Kritische Theorie, Diskursanalyse, Dekonstruktion, gender studies etc.)« (23). Sie zeichneten sich dadurch aus, dass sie nicht originär literaturwissenschaftlich und zudem pluralistisch orientiert und ›technisch‹ ausgerichtet seien (vgl. 23f., dort auch die folgenden Zitate). Sie seien »für andere bzw. weitergefasste kulturwissenschaftliche Gebiete als nur die Literatur entwickelt« worden; man könne sie »in der historischen Gesamtschau […] als Ergänzungen […] verstehen, die der Komplexität des in sich widerspruchsvollen Phänomens ›Literatur‹ gerecht zu werden versuchen«; sie dienten dazu, »Anleitungen zu geben, mit welchen Instrumenten und auf welche Weise man sich der Literatur am angemessensten nähern soll«.

Die von Urbich propagierte literarische Ästhetik zeichne sich gegenüber diesen Literaturtheorien durch »eine historische und systematische Vorzeitigkeit« aus (24, Hervorhebungen i.Org.). Er stellt sie zum einen – historisch – in die Tradition der Ästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts, die als Vorläuferin der literaturtheoretischen Positionen aufgefasst werden könne. Urbich macht geltend, dass Letztere mit Ersterer in sachlicher Verbindung stehen, sodass Literaturtheorien »nur aus den Fragestellungen und Begriffsgeschichten dieses Kontinuums zu begreifen sind« (ebd., vgl. 285–294). Zum anderen sieht er die Aufgabe der literarischen Ästhetik – systematisch – darin, dass sie »kategoriale Fragen des Literaturbegriffs aufstellt und in ihren Antwortmöglichkeiten diskutiert« (25), im Vergleich zu den verschiedenen literaturtheoretischen Ansätzen also auf einer übergeordneten Ebene liege.

Literaturtheorien sind also laut Urbich nicht literaturspezifisch (sondern zum Beispiel primär soziologisch oder ethnologisch), pluralistisch und anwendungsbezogen, sie zeichnen sich mithin dadurch aus, partielle Zugangsweisen zum Gegenstand ›Literatur‹ zu eröffnen. Die literarische Ästhetik hingegen sei literaturspezifisch, monistisch und grundlagentheoretisch, sie zeichne sich mithin dadurch aus, eine allgemeine Reflexion des Gegenstandes ›Literatur‹ zu leisten, ohne nicht literaturspezifische Bezugstheorien zu verwenden.

›Literatur‹ meint in diesem Zusammenhang »die ›schöne‹ bzw. künstlerisch gestaltete und gemeinte Literatur […], deren Begriff sich vor allem im 18. Jh. herausbildet und die stets das Zentrum der modernen Disziplinen ›Literaturwissenschaft‹ und ›Literaturtheorie‹ gebildet hat« (13). Aufgrund ihrer ästhetischen Qualitäten sei diese »Literatur als Literatur« klarer- und sinnvollerweise von der Nicht-Literatur zu unterscheiden (296, Hervorhebung i.Org.), wie Urbich in Auseinandersetzung mit Positionen der ›kulturwissenschaftlichen Wende‹ und anderen Vorschlägen zur Bestimmung eines weiten, zumindest jedoch nicht-substantiellen Literaturbegriffes zu bedenken gibt (vgl. 294–302). Der Gegenstandsbereich, der mit diesem Begriff bezeichnet wird, ist noch in einer weiteren, nämlich zeitlichen Hinsicht fokussiert. Unter ihn fallen vor allem seit der Aufklärung entstandene Texte, an denen sich folglich die »Modernität des Literarischen« in besonderer Weise zeige (25).

Es lässt sich somit sagen, dass drei Festlegungen für die Perspektivierung des in diesem Buch Behandelten bestimmend sind. Literaturtheoretische Grundfragen werden, erstens, primär mithilfe einer bestimmten kunstphilosophischen Zugangsweise untersucht (und nicht zum Beispiel mithilfe einer soziologischen oder sprachtheoretischen). Deswegen wird immer wieder Bezug genommen auf Platon und Aristoteles, Kant und Hegel, Benjamin und Adorno; die von ihnen vertretenen ästhetischen Positionen werden zudem ergänzt durch poetologische Reflexionen, wie sie sich bei Lessing, Goethe, Schiller und Hölderlin finden. Daneben spielen natürlich auch in gewissem Maße die eingangs erwähnten Vertreter und Anreger literaturtheoretischer Positionen eine Rolle, etwa Luhmann, wenn es um Kommunikation geht, oder Iser, wenn vom Leser die Rede ist. Der Gegenstandsbereich ist, zweitens, durch einen engen Literaturbegriff konturiert, dessen historische Reichweite sich, drittens, in erster Linie auf ›moderne‹, seit dem 18. Jahrhundert entstandene Texte beschränkt. Dieser Literaturbegriff kann zudem als emphatisch bezeichnet werden, insofern etwa davon ausgegangen wird, dass Literatur »besonders Bedeutendes« zur Darstellung bringe, sich aufgrund ihrer formalen Beschaffenheit durch eine Fülle von »Sinnpotentiale[n]« auszeichne und in funktionaler Hinsicht etwas »zur Konstitution, Transformation und Reflexion von Kulturlandschaften und Lebenswelten beizutragen« habe (95, 205 und 296).

Zwei Beispiele

Anstatt alle Kapitel einzeln zu besprechen, was dann nur sehr oberflächlich geschehen könnte, sollen exemplarisch zwei herausgegriffen und etwas eingehender erörtert werden. An ihnen lässt sich besonders gut zeigen, was der Verfasser behandelt und wie er dabei vorgeht.

In Kapitel 7, »Die Kommunikationsweise der Literatur« (129–147), wird der Umgang mit Literatur als ›Kommunikationsgeschehen‹ verständlich zu machen versucht. Nach einer einleitenden, allgemeinen Klärung des Kommunikationsbegriffes zieht Urbich Jakobsons bekanntes Modell heran, um anhand der ›poetischen Funktion‹ das Spezifische literarischer Kommunikation deutlich zu machen, das darin zu sehen sei, dass sie »systematisch indirekt« ist (136, i.Org. kursiv). Damit ist gemeint, dass bei literarischer Kommunikation die Selbstbezüglichkeit des Textes im Vordergrund stehe. Auf diese Weise werde etwas zu verstehen gegeben, das sich nicht in einer klar angebbaren (intendierten) Botschaft niederschlage, die – pragmatischen Maximen wie denen von Grice gehorchend – auf so etwas wie Verständigung und Konsens ziele, sondern ein komplexes »Bedeutungsgeschehen« ermögliche (135, vgl. 98–102), bei dem die elaborierte formale Beschaffenheit des Textes im Mittelpunkt stehe. Anschließend werden Rolle und Funktion des Autors sowie, deutlich kürzer, des Lesers behandelt. In Auseinandersetzung mit der wirkmächtigen poststrukturalistischen Kritik (Barthes, Foucault) hält Urbich daran fest, dass ›Autor‹ in zweierlei Weise eine wichtige Funktion habe: Literarische Texte seien Artefakte, hinter denen eine »generelle Aussageabsicht (Intentionalität)« stehe (141), und der Rekurs auf den empirischen Autor ermögliche es, relevante »Bedeutungskontexte« zu identifizieren (142, i.Org. kursiv). Hinsichtlich des Lesers stellt Urbich dessen aktive und kreative Rolle im Rezeptionsprozess heraus und erörtert kurz, wie »das Werk erst im und durch den Leser entsteht« (144, Hervorhebungen i.Org.).

Anhand dieses Kapitels zeigt sich zunächst der ästhetische Fokus des Buches sehr deutlich. Die grundsätzliche theoretische Frage, ob, und wenn ja inwiefern, der Umgang mit literarischen Texten als Kommunikation aufzufassen ist, wird unter besonderer Beachtung der Frage behandelt, wie sich literarische Kommunikation von anderen Formen unterscheidet. Zudem wird die Konzentration auf ›Literatur‹ in einem engen Sinne ersichtlich, wenn die formale Beschaffenheit und Selbstbezüglichkeit des Textes herausgestellt werden. Anhand der Verbindung von Kommunikation und Bedeutungskonzeption wird an einem Beispiel verständlich zu machen versucht, wie das in diesem Buch Behandelte zusammenhängt. Autor und Leser spielen als Kommunikationsinstanzen in ästhetischer Hinsicht eine Rolle und nicht in soziologischer. Es geht also nicht etwa um schriftstellerische Inszenierungspraktiken und Auseinandersetzungen im literarischen Feld. Die kognitionswissenschaftlich beschreibbare Dimension des Rezeptionsprozesses, wie sie in der Leserpsychologie und den Cognitive Poetics mittlerweile sehr umfänglich untersucht wird, ist hier für Urbich nicht einschlägig. Stattdessen wird auf Ingarden und Iser eingegangen. Es unterbleibt auch ein Hinweis auf die mittlerweile, zumal in der anglophonen Kunstphilosophie, sehr differenziert geführte und im deutschsprachigen Raum zunehmend rezipierte Intentionalismusdebatte, die unterschiedlich starke Positionen hervorgebracht hat. Zu nennen wären insbesondere Spielarten des aktualen und des hypothetischen Intentionalismus.

In Kapitel 12 geht es um »Die Funktionen der Literatur« (235–259). Schon allein der Umstand, dass den Funktionen der Literatur in einem solchen Rahmen ein eigenes Kapitel gewidmet ist, kann positiv vermerkt werden, da Aussagen zu diesem in der Literaturwissenschaft bisher nicht befriedigend geklärten, mitunter überhaupt nicht als solchem erkannten Problem eher selten zu finden sind, erst recht in Studienliteratur. Zu Beginn erörtert Urbich anhand der »Dialektik von Zweckhaftigkeit und Zwecklosigkeit« (238), dass und wie man in Anbetracht der ästhetischen Autonomie der Literatur, wie sie programmatisch um 1800 entwickelt wurde, sinnvoll von ihren Funktionen sprechen könne. Sodann stellt er zum einen Funktionen der Literatur dar, wie sie in der vormodernen Philosophie und in der Ästhetik (und Poetik) seit Baumgarten typischerweise angenommen wurden, und zum anderen behandelt er die zumal in letzter Zeit häufig diskutierte Leistung der Literatur, Erkenntnis zu vermitteln, als eine im Laufe der Jahrhunderte immer wieder postulierte Funktion. Urbich gibt diesem Vorgehen den Vorzug vor einer abstrakten Typologisierung von Funktionen, weil er der Auffassung ist, dass sich auf diese Weise Aufschluss darüber erzielen lasse, wie sich ›Literatur‹ im hier gemeinten Sinne auch in diesem Aspekt von vormoderner Literatur unterscheide, und weil anhand der Erkenntnisfunktion wiederum das in ästhetischer Hinsicht Besondere des literarischen Textes ersichtlich werde. Als vormoderne Funktionen behandelt er etwa die Aristotelische katharsis-Lehre und die im bekannten Horaz’schen Topos zum Ausdruck kommenden Funktionen des Belehrens und des Erfreuens. Von Baumgarten auf der einen und der frühromantischen Poetik (Schlegel) auf der anderen Seite ausgehend, stellt er dar, wie Literatur die Funktion zugewiesen werden könne, Subjektivität auszudrücken, erfahrbar und bewusst zu machen. In diesem Zusammenhang legt er unter Rekurs auf Gottfried Willems auch dar, dass und wie literarische Kommunikation als ›Wertungsgeschehen‹ begriffen werden könne: In literarischen Texten werde subjektives Erleben in wertender Weise dargestellt, der Rezipient müsse sich zu diesen wertenden Darstellungen verhalten. Die abschließende Behandlung der Erkenntnisfunktion der Literatur erfolgt anhand einer Diskussion zentraler Einwände, die seit der antiken Philosophie immer wieder gegen die Möglichkeit der Literatur, eine ›ästhetische Wahrheit‹ zu vermitteln, ins Feld geführt wurden. Als Ergebnis lasse sich festhalten, dass man Literatur eine besondere »Erschließungsfunktion« zusprechen könne (257, i.Org. kursiv). Literatur ermögliche die »Entdeckung neuer Sichtweisen, Bedeutungsdimensionen und Daseinsmöglichkeiten im Simulationsraum ästhetisch-literarischer Erfahrung« (ebd.).

Anhand dieses Kapitels lassen sich die bezüglich Kapitel 7 festgehaltenen Beobachtungen bestätigen, etwa das Bestreben, einen Aspekt der Literatur, hier ihre Funktionen, als literaturspezifisch auszuweisen. Darüber hinaus zeigt sich in exemplarischer Weise und deutlich das Anliegen, die Tradition der Ästhetik für die Behandlung gegenwärtiger literaturtheoretischer Fragen fruchtbar zu machen.

Zusammenfassende Einschätzung

Literarische Ästhetik ist ein sehr ambitioniertes Buch. Dies nicht nur insofern, als der Anspruch erhoben wird, eine Reihe literaturtheoretischer Grundfragen aus einer spezifischen Perspektive zu behandeln, die den verschiedenen literaturtheoretischen Positionen vorgelagert sein soll, sondern auch deswegen, weil es sich an Adressaten richtet, die mithilfe dieses Buches an literaturtheoretische Fragestellungen überhaupt erst herangeführt und darüber hinaus zur eigenständigen Reflexion angeleitet werden sollen.

Was die Auswahl der behandelten Aspekte und die in diesem Zusammenhang einbezogene Forschungsliteratur angeht, könnte man der Auffassung sein, dass das eine oder andere fehlt, von dem zu erwarten gewesen wäre, dass es Berücksichtigung gefunden hätte. Warum gibt es zum Beispiel kein Kapitel, das in begrifflicher und sachlicher Hinsicht darlegt, was ein Text ist? Literarische Texte sind fraglos Texte. Warum werden wichtige und hier in hohem Maße einschlägige kunstphilosophischen Positionen der analytisch-anglophonen Tradition nicht behandelt, wie sie von Monroe C. Beardsley, Noël Carroll, Peter Lamarque, Jerrold Levinson und Robert Stecker ausgearbeitet wurden? Die genannten und zahlreiche weitere Autoren haben sich in ihren Arbeiten mit den Fragen beschäftigt, die auch von Urbich gestellt werden, und sie haben dabei Standards gesetzt, die man nicht ohne Weiteres ignorieren sollte. [1] Es mag zwar richtig sein, dass »Leerstellen […] nur in einem begrifflichen Koordinatensystem bestimmbar« sind (12), gleichwohl könnte es sein, dass dieser Hinweis für sich genommen manchem nicht ausreicht.

Was Konzeption und Ziele angeht, so mag mitunter der Eindruck entstehen, dass der weitreichende systematisch-theoretische Anspruch und die hochgesteckten didaktisch-praktischen Anliegen in einem gewissen Spannungsverhältnis stehen. Auf verhältnismäßig geringem Raum wird eine Vielzahl literaturtheoretischer Grundfragen behandelt, die zudem in der Forschung zum Teil bisher nicht wirklich befriedigend verstanden worden sind. Manches mag da den Adressaten nicht ohne Weiteres klar ersichtlich werden. Um es an einem der Kapitel zu verdeutlichen, die voranstehend etwas eingehender betrachtet wurden: Ist Jakobsons auf den Begriff der ›poetischen Funktion‹ gebrachtes Selbstbezüglichkeitspostulat tatsächlich korrekt? Wie verhält sich sein Kommunikationsmodell zum Begriff ›Kommunikation‹ bei Luhmann, der ebenda behandelt wird (vgl. 137f.)? Lässt sich mit dem Hinweis, dass »[i]n literarischer Darstellung […] jedes Element der Botschaft potentiell hochbedeutend [ist], weil es zum Schlüssel einer Interpretation des Werkes werden kann« (134), der Unterschied zwischen literarischer Kommunikation und anderen Formen verständlich machen (falls es ihn gibt), oder gilt dies nicht auch für Gesetze, religiöse Schriften oder manches philosophische Werk? Inwiefern wird hier prinzipiell anders vorgegangen als in anderen literaturtheoretischen Ansätzen und inwiefern wird gegenüber anderen literaturtheoretischen Einführungen Neues geboten, wenn doch der Linguist Jakobson und der Soziologe Luhmann für die Argumentation eine wichtige Rolle zu spielen scheinen? Auf Fragen dieser Art hat Urbich sicherlich eine Antwort. Um sie angemessen darzustellen, müssten die Ausführungen, zumal in einer ›Denkanleitung‹, vermutlich teilweise etwas klarer, umfangreicher und expliziter sein, als es im Rahmen dieser Publikation möglich ist. Zudem müsste man das Für und Wider mancher Thesen eingehender erörtern.

Was das Projekt einer ›literarischen Ästhetik‹ angeht, so steht zu vermuten, dass die von Urbich vertretene Sicht, der zufolge kunstphilosophische Überlegungen im erläuterten Sinne grundlegend für das theoretische Verständnis literarischer Texte sein sollen, nicht unwidersprochen bleiben dürfte. Manchem mag da das eine oder andere historisch und systematisch nicht einleuchten, sei es, dass man die Herleitung literaturtheoretischer Grundfragen aus der (kontinental)philosophischen Ästhetik nicht für überzeugend hält, sei es, dass man eine andere als die fraglos eminent wichtige ästhetische Dimension der Literatur als grundlegend(er) oder zumindest gleichrangig ansieht, etwa die sprachlich-textuelle. So sinnvoll und notwendig es auf der einen Seite ist, nach dem – in der Forschung höchst strittigen – fundamentum in re einer Literaturtheorie-im-Singular zu fragen, so komplex ist dieses Unterfangen auf der anderen Seite auch, zumal man sich leicht dem Vorwurf ausgesetzt sehen könnte, im Prinzip nicht wesentlich Anderes zu leisten als andere literaturtheoretische Ansätze mit ihren jeweils eigenen Festlegungen. Gewiss, literaturtheoretische Ansätze machen Anleihen bei Bezugstheorien, die anderen fachlichen Zusammenhängen entstammen. Aber gilt dies nicht in gleicher Weise für die Bezugnahmen der literarischen Ästhetik, die Literaturtheorie mithilfe der Philosophie betreibt? Anders gefragt: Ist der Versuch, Literaturtheorie aus ästhetischer Sicht zu konzeptualisieren, nicht doch als eine unter mehreren »Ergänzungen zu verstehen, die der Komplexität des in sich widerspruchsvollen Phänomens ›Literatur‹ gerecht zu werden versuchen« (24)?

The proof of the pudding ist allerdings auch hier das Essen. Man wünscht diesem interessanten Buch-als-Denkanleitung jedenfalls viele aufgeschlossene und kritische (studentische) LeserInnen, die anfangen mit dem Anfangen und herausfinden, wie sinnvoll es in didaktischer und wie überzeugend es in systematischer Hinsicht tatsächlich ist.

Jan Borkowski, M.A.

Georg-August-Universität Göttingen

Seminar für Deutsche Philologie

Anmerkungen

[1] Eine aussagekräftige Übersicht bieten Jerrold Levinson (Hg.), The Oxford Handbook of Aesthetics, Oxford 2003; Matthew Kieran (Hg.), Contemporary Debates in Aesthetics and the Philosophy of Art, Malden, MA/Oxford 2006; Peter Lamarque, The Philosophy of Literature, Malden, MA/Oxford 2009. [zurück]

2012-03-28

JLTonline ISSN 1862-8990

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Jan Borkowski, Vom Anfangen. Grundfragen der Literaturtheorie. (Review of: Jan Urbich, Literarische Ästhetik. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2011.)

In: JLTonline (28.03.2012)

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