Tom Kindt

Matthias Beilein

Der Vorhang zu und alle Fragen offen

Nicholas Saul/Ricarda Schmidt (Hg.), Literarische Wertung und Kanonbildung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. 202 S. (Preis: EUR 29,80). ISBN: 978-3826035937.

Der zu besprechende Band ging aus einer internationalen Tagung hervor, die 2004 unter dem Titel »Literarische Wertung und Kanonbildung in der deutschen Tradition nach der Postmoderne« am Londoner Institute of Germanic Studies stattfand. Die Einleitung von Ricarda Schmidt (»Der literarische Kanon. Ein Organ des Willens zur Macht oder des Gewinns an Kompetenzen«) bietet einen brauchbaren Überblick über den Stand der Forschung. Zugleich fasst sie knapp die Diskussionsergebnisse der Tagung zusammen und formuliert den Zweck der Publikation dieses Bandes: »Die unterschiedlichen und z.T. gegensätzlichen Positionen, die in diesem Band artikuliert werden, sollen nicht harmonisiert werden, sondern ein Bild der gegenwärtigen Vielfalt der Meinungen in Sachen Kanonbildung und literarischer Wertung geben« (20). Dieses Ziel sehe ich leider nur zu einem Teil verwirklicht, hinterlassen doch zu viele Beiträge dieses Bandes den Eindruck, dass sich deren Verfasser für Kanonbildung und literarische Wertung eigentlich nicht interessieren. Wie sollte der Band etwas Signifikantes zu dem Forschungsschwerpunkt beitragen, dem er sich mit seiner Titelgebung zuordnet, wenn in vielen Beiträgen die Forschung offenbar nicht zur Kenntnis genommen worden ist, teils unterkomplexe, allgemeinsprachliche Verwendungen zentraler Termini dominieren und man bei einzelnen Beiträgen nicht den Verdacht loswird, hier sei ein Beitrag auf das Tagungsthema hingezimmert worden, indem man ab und zu das Wort »Kanon« im Text aufblitzen lässt?

Manfred Engel (»Kanon – pragmatisch. Mit einem Exkurs zur Literaturwissenschaft als moralischer Anstalt«) leitet seinen Beitrag mit launigen Betrachtungen über den Kanonbegriff ein, geht dabei aber nicht über Erkenntnisse hinaus, die sich in der Kanonforschung als Allgemeinplätze etabliert haben (den Kanon gibt es nicht, Kanones lassen sich unterscheiden hinsichtlich der mit ihnen ausgedrückten Intentionen, ihrer Adressaten, sie werden laufend revidiert u.ä.). Interessanter ist seine Polemik gegen diejenigen, denen er letztlich seine Einsichten verdankt. Engel plädiert dafür, die Analyse der Kanonkonstitutionen etwas entspannter anzugehen als seine namentlich nicht genannten US-amerikanischen Kolleginnen und Kollegen. Der Faktor »Macht« bei Kanonisierungsprozessen wird seiner Ansicht nach »als Intellektuellenvariante der populären Verschwörungstheorien« (27) überpointiert, das »finstere Diktat des Kanons« solle man besser versuchen, »zum Kanon-Spiel zu entdämonisieren« (28). Dagegen ließe sich einwenden, dass kein Spiel ohne Regeln abläuft. Wenn Kanonisierung das Resultat eines spielerischen Prozesses ist, wer legt dann die Spielregeln fest und wer sind diejenigen, die über ihre Einhaltung wachen?

Die Ergebnisse der Forschung hinsichtlich der Analyse von Kanonfunktionen fasst Engel in drei Punkten zusammen (Kanon als Mittel zur Stiftung von kulturellen Identitäten, als Tradierung von handlungsleitenden Werten und das Verfügen über Kanonwissen als Mittel der Begründung und Stabilisierung von sozialen Rangpositionen) und leitet damit zum pragmatischen Teil seines Aufsatzes über. Vor allem die beiden letztgenannten Punkte haben Engel zufolge ihren Stellenwert verloren, so dass »als wichtigste die identitätsstiftende Funktion« (29) übrig bleibt. Diese Einsicht ist weder falsch noch neu; hier hätte sich jedoch die Möglichkeit ergeben, darüber nachzudenken, warum das Kanonwissen zwar einerseits seine soziale Funktion verloren hat, aber andererseits ein enormes Bedürfnis besteht, sich anhand von Kanones in Form von Lektürelisten, Bucheditionen, Klassikreihen oder auch CD- oder DVD-Editionen zu orientieren. Zeigt sich nicht an genau solchen Phänomenen, dass die identitätsstiftende Funktion des Kanons und damit einer der Topoi der Kanonforschung problematisch geworden ist?

Abschließend stellt Engel sich die Frage, »wie ein Kanon aussehen sollte, der von der Interessenlage des Literaturwissenschaftlers, speziell von der des Germanisten bestimmt ist« (30). Er lässt sich dabei von drei Überlegungen leiten. Ein Lektürekanon sei erstens »Instrument zum Management [des] disziplinären Wissensvorrates«, müsse zweitens historische Orientierungshilfe geben und »alle Epochen berücksichtigen« und schließlich drittens »von autonomieästhetischen Gesichtspunkten geleitet sein, da besonders elaborierte Texte das germanistische Analyseinstrumentarium zugleich maximal fordern wie maximal fördern« (ebd.). Warum auch immer Engel hier Autonomieästhetik mit dem Werturteil »besonders elaboriert« gleichsetzt, das eigentlich Prekäre dieser Forderung scheint mir seine historische Implikation zu sein. Will Engel die Epochen vor der ›Erfindung‹ der Autonomieästhetik nicht berücksichtigen und damit seine eigene Forderung, der Kanon müsse für »alle Epochen« offen sein, erheblich einschränken? Diesem Einwand versucht er mit dem Hinweis zuvorzukommen, dass »auch für dominant heteronom-ästhetische Epochen das Selektionsideal der (jeweiligen und relativen) literaturimmanenten Innovation gilt« (ebd.). Aber ist der Wertmaßstab »Innovation« nicht eher ein Selektionskriterium, mit dem wir mit unserem heutigen Blick auf vergangene Epochen die Kanonrelevanz eines literarischen Textes begründen würden? Wenn man, wie Engel als »überzeugter Historist« (33), seine »Auswahlmaßstäbe weitgehend denen der jeweiligen Epoche anpassen« (30) will, darf man doch nicht übersehen, dass in den Epochen, die Engel anachronistisch und daher wenig trennscharf als »heteronom-ästhetische« bezeichnet, Innovation als Wertmaßstab zwar nicht irrelevant, aber in vielen Fällen nicht ausschlaggebend gewesen sein dürfte.

Noch problematischer finde ich allerdings Engels abschließende Betrachtungen. Weniger deshalb, weil sie offen provozieren wollen, sondern eher, weil ich sie zum Teil schlicht nicht nachvollziehen kann:

Daß elaborierte Literarizität als Bedingung der Möglichkeit komplexer und differenzierter ästhetischer Erfahrungen ein zentrales Wert- und damit Kanonkriterium ist, scheint aber in der neueren Literaturwissenschaft alles andere als selbstverständlich zu sein. Wir begegnen hier vielmehr einem Phänomen, das Modernisierungstheoretiker überhaupt nicht vorgesehen haben: Statt einer immer weiter fortschreitenden Ausdifferenzierung von Teilsystemen erleben wir einen Entdifferenzierungsprozeß, der die Autonomie des Teilsystems Literatur aufheben und es wieder unter die Richtinstanz der Moral stellen will – einer neu definierten Moral freilich, die mit dem Etikett der »political correctness« zwar nur vage, für meine Zwecke aber zureichend charakterisiert ist.

Belegende Beispiele dürften überflüssig sein, da das Phänomen ubiquitär ist: Zunehmend wird die Literaturwissenschaft zur moralischen Anstalt, ja zum Weltgericht, mindestens für die armen Autoren, die nun nicht mehr gute Schriftsteller, sondern vor allem gute Menschen sein sollen. (32)

Von welchen »ubiquitären« Phänomenen ist hier eigentlich die Rede? Wer versucht wodurch die »Autonomie des Teilsystems Literatur« aufzuheben, wer fordert, dass Schriftsteller »gute Menschen« sein sollen, was hat die Literaturwissenschaft damit zu tun und was der universitäre Lektürekanon, auf den sich Engel hier zu beziehen scheint? Ohne es überprüft zu haben, glaube ich doch behaupten zu dürfen, dass der allergrößte Teil der Lektüreanforderungen an Germanisten oder Literaturwissenschaftler an deutschsprachigen Universitäten dem nach Engel zentralen Kriterium der Elaboriertheit entspricht, heute vielleicht noch stärker als früher, weil sich die Modularisierung der Studiengänge ohne ein nach zweckrationalen Erwägungen zusammengestelltes Textkorpus nicht umsetzen ließe. Beschreibt Engel hier vielleicht schlicht ein angelsächsisches Phänomen?

Auch mit seinem letzten Punkt habe ich meine Schwierigkeiten:

Im autonomieästhetischen Bereich der Literarizität hat der Literaturwissenschaftler nun einmal sowohl sein Kompetenzzentrum wie auch sein Kompetenzmonopol (was ihn natürlich nicht daran hindern muss, sich auch mit anderen Dimensionen des literarischen Textes zu beschäftigen). Es ist nicht zu leugnen, daß diese Kompetenz heute weniger nachgefragt wird als in früheren Zeiten. Da kann man sich als guter Geschäftsmann nachfrageorientiert verhalten und Selbstumschulung betreiben: Cultural Studies verkaufen sich sicher besser, die Kombination von Germanistik mit Holocaust Studies und Film Studies soll, sagen mir amerikanische Kollegen, geradezu ein Boomgeschäft sein. À la bonne heure, sage ich, und rede niemandem in seine Entscheidungen hinein, solange die Konsequenzen dieses Handelns gewusste und gewollte sind. Der Kanon der Cultural Studies wird ein anderer sein können und sein müssen als der der Literaturwissenschaft. Man kann nur nicht a sagen, ohne b zu bewirken: Wer seinen Kanon heteronomästhetisch begründet, arbeitet letztlich auf die Abschaffung der Literaturwissenschaft als einer eigenständigen Disziplin hin. (33)

Die alte Debatte. [1] Aber warum sollten die Erweiterung des Kernkanons, die Auseinandersetzung mit kulturellen Phänomenen aus interdisziplinärer Perspektive oder die von anderen theoretischen Zugriffen als dem »autonomieästhetische[n] Repertoire« (31) geleiteten Textanalysen gleich die Eigenständigkeit der Disziplin bedrohen? Ich persönlich glaube eher, dass diejenigen, die die »Eigenständigkeit der Disziplin« nach Maßgabe ihrer eigenen Präferenzen einklagen, vor allem bei denjenigen offene Türen einrennen, die die Geisteswissenschaften an sich fragwürdig finden.

Mehrere informative Fallbeispiele illustrieren Wertungshandlungen und Kanonisierungsversuche aus unterschiedlichen Epochen der deutschen Literaturgeschichte. Roger Paulin (»Georg Forster as Seen by Georg Gottfried Gervinus«) beschreibt die Rezeption Forsters bei Gervinus, dessen Versuch der »evaluation and rehabilitation« sich in einer knappen, aber einschlägigen (»short, but incisive«, 35) Würdigung in der Neueren Geschichte der poetischen Literatur der Deutschen und in seiner Beteiligung an der ersten Werkausgabe ausdrückte. Gerade diese Edition von 1843 habe, wie die Lenz-Ausgabe von Tieck (1828) oder die Heinse-Ausgabe von Laube, die Strategie verfolgt, mit der »memoralization and adjustment to the canon« die Zeitgenossen Goethes wieder in Erinnerung zu rufen, die in seinem Schatten standen, zumal das »already massive edifice of his works« (36) durch die Veröffentlichung des Briefwechsels mit Schiller, den Gesprächen etc. noch monumentaler zu werden drohte. Doch wie lässt sich ein Autor kanonisieren, der gut fünfzig Jahre lang ungedruckt geblieben war, dessen Namen vielen nur deswegen in Erinnerung war, weil er Opfer von Goethes und Schillers Xenien geworden war, und der in so vielem für das Gegenteil von dem stand, was mit den Autoren der Weimarer »Kunstperiode« verbunden wurde?

Auf welche Resonanz die vom Geist des Vormärz beflügelten Versuche, Forsters Ansichten vom Niederrhein als einen Schlüsseltext der 1790er Jahre, der den Ästhetischen Briefen oder dem Wilhelm Meister gleichrangig sei, einer größeren Öffentlichkeit zu vermitteln, gestoßen sind, fällt leider nicht mehr ins Erkenntnisinteresse Paulins. Groß dürfte sie nicht gewesen sein. Das Engagement einzelner Wissenschaftler und die Klassiker-Pflege der DDR, die ihm eine historisch-kritische Ausgabe widmete, hat indes dafür gesorgt, dass er nie ganz vergessen wurde. Die vergangenes Jahr erschienene Neuedition der Reise um die Welt in der Anderen Bibliothek scheint das Projekt von Gervinus, Forster als einen vergessenen Klassiker wiederzuentdecken, fortführen zu wollen.

Auch im Beitrag von Anne D. Peiter (»Satire und Kanonbildung im Wien der Zwischen- und Nachkriegszeit«) stehen die Versuche eines einzelnen, exponierten Akteurs um die Modifikation des Kanons im Mittelpunkt, in diesem Falle die von Karl Kraus. Peiter interessiert sich aber weniger für die performativen Kanonrevisionen (also die wohl auch geglückten Versuche, beispielsweise den seinerzeit fast vergessenen Nestroy nicht nur in Erinnerung zu rufen, sondern ihn vom Nimbus des Possenreißers und Volksdichters zu befreien, indem Kraus Texte von Nestroy in das feste Repertoire seiner eigenen Lesungen aufnahm). Auch sein Sensorium für Talente oder seine Versuche, die seiner Meinung nach zu Unrecht Unbekannten der zeitgenössischen Literatur zu fördern, werden nur am Rande beleuchtet. Im Zentrum steht vielmehr der Kraus’sche Negativkanon, der mindestens genau so reich an Umfang und Einfluss war wie das Korpus seiner Präferenzen. Peiter zieht die Kraus-Rezeption von Elias Canetti hinzu, um dadurch »zwei geradezu paradigmatische Interpretationsansätze in Bezug auf Kanonisierungsvorgänge« (49) herausarbeiten zu können: Kraus rechtfertigte sein Vorgehen damit, dass die sprachliche Verderbtheit seiner Zeit klarer Vorbilder bedürfe und sah sich von Benjamin verteidigt, der ihn dialektisch zum Aufklärer umdeutete. Canetti dagegen, der sich im Rückblick an die Kraus’schen Vorlesungen an das Leben in einer »Diktatur« erinnert, wandelt sich vom Krausianer zu einem »Repräsentanten der leidvollen Skepsis gegenüber Siegern – und sei es auch ›nur‹ der Sieg eines Textes über einen anderen« (ebd.). Mit dem »Recht des Stärkeren« und »Besseren« (ebd.) gefällte literarische Wertungen enthielten für Canetti »Ansätze zu einer tödlichen Vereinheitlichung« (ebd.).

Peiter verlängert diese Deutung mit der These, dass sich in Canettis Werk die »Skepsis den Siegern gegenüber« als »Skepsis gegenüber den Festschreibungen von Kanones niedergeschlagen habe«, auch wenn seine Autobiographie »geradezu als eine Geschichte zu verehrender, kanonisierungswürdiger Texte« angelegt sei (50). Mit Masse und Macht habe Canetti aus mehreren Gründen versucht, die bestehenden Kanones zu unterlaufen; auch eine biographische Motivation, nämlich die »Reaktion auf das Unbehagen über die eigene Unterwerfung unter Kraus« hält Peiter (mit Verweis auf Veza Calderon-Canetti) für plausibel. Insgesamt sei Canettis Hauptwerk ein »großes Plädoyer zugunsten einer Aufnahme von Mythen in einen neuen, nicht bloß europäischen, sondern geradezu universalen ›Gegenkanon‹« (53).

Frank Möbus (»Wie, was – und wer? Zur An- oder Abwesenheit des Autors bei der literarischen Wertung«) nähert sich »einem Schlüsselproblem bei Fragen der literarischen Wertung« (89), nämlich dem Stellenwert von Kontexten und Paratexten bei der Wertung von literarischen Texten, mit einem Experiment. Den Probanden, Studierenden der Germanistik, wurde ein Text ohne Angabe des Autors vorgelegt. Dazu erhielten sie sechs Passagen aus fingierten Forschungstexten, die sich scheinbar auf den gegebenen Textauszug bezogen und mit einer historischen Einordnung ein Interpretationsangebot machten. Ein siebter Vorschlag lautete, dass der Text von Möbus selber stamme. Das Ergebnis: Kaum mehr als ein Prozent der Probanden ordnete den Text, ein Auszug aus dem Roman Michael von Joseph Goebbels, dem richtigen Autor zu, die meisten entschieden sich für die Lösung Klabund, weil ihnen offenbar die Interpretation, es handele sich um das Bekenntnis eines Pazifisten, der mit seinen satirischen Mitteln das Pathos der Kriegsbegeisterung bloßstellen wolle, am plausibelsten erschien.

Diesem Experiment stellt Möbus die Analyse eines fehlgeleiteten Wertungsprozesses voran, den Fall Wilkomirski. Die Schuld an diesem »literarische[n] Skandalon« (92) gibt er einzig Doesseker/Wilkomirski, denn »[a]ngesichts all der hochautoritativen Beglaubigungen, die dem Buch paratextuell beigegeben waren« (93) könne niemand behaupten, Wilkomirskis »furchtbare[r] Travestie« (92) nicht ebenso auf den Leim gegangen zu sein wie die euphorisierten Kritiker. Möbus lässt dabei unerwähnt, dass es in der Rezeption der Bruchstücke von Anfang an den Verdacht gab, dass es sich dabei nicht durchgehend um einen authentischen Erfahrungsbericht handelt. Für ihn liegt es auf der Hand (und er illustriert dies mit einem längeren Textausschnitt), dass es sich bei den Bruchstücken um »billige[n], plakative[n] Schund« handelt, »in dem Schindluder mit dem Entsetzen getrieben wird« (90). Die Frage ist, ob das diejenigen, die 1995 am literarischen Rang dieses Buches keinen Zweifel lassen wollten, genauso sehen. Wahrscheinlich würden ihm alle Recht geben, dass es sich bei der Vorspiegelung einer falschen Identität des Autors um eine unzulässige Form der Leserlenkung handelt. Aber würden ihm wirklich alle zustimmen, dass der Text als fiktionaler Text gelesen unerträglich ist? Ich schlage Frank Möbus vor, sein Experiment mit einer Passage aus den Bruchstücken ohne Nennung des Autors zu wiederholen.

Das Werten als Akt sozialen Handelns und die Abhängigkeit des Wertens vom ›Voraussetzungssystem‹ des Lesers stehen in der Tat im Zentrum der Forschung. Die Ergebnisse seines Experiments ließen sich für sie zum Beispiel dadurch fruchtbar machen, indem man der Frage nachgeht, warum sich erstens die meisten Probanden für Klabund (und nicht Ernst Jünger, Gerhart Hauptmann, Helmut Heißenbüttel, Erich Mühsam, Frank Möbus oder eben Joseph Goebbels) entschieden haben oder warum zweitens nur fünf von fast vierhundert Teilnehmern für Goebbels votierten. Es liegt auf der Hand, dass hier u.a. das Kontextwissen der Studierenden ausschlaggebend gewesen sein dürfte. Dass Goebbels auch Gedichte schrieb und einen Roman veröffentlichte, bevor er »zu einer der furchtbarsten Personen der Weltgeschichte« (98) wurde, wissen vermutlich nur die wenigsten. Und solange man glaubt, dass Goebbels der »Teufel in […] Menschengestalt« (97) war und nicht eine Menschengestalt, die sich wie der Teufel verhielt, wird man die Autorschaft Goebbels’ für abwegig halten. Teufel schreiben keine Romane.

Der Beitrag von Paul Bishop, (»›Heavyweight of the Weimar Republic‹? Issues of Literary Value and Canonicity in Hermann Hesse«) hat mich etwas ratlos zurückgelassen, und ich gestehe, dass ich ihn nicht ganz verstanden habe. Seine Kernthese lautet: »Hesse’s work in general raises issues of canonicity, and […] three novels in particular – Demian (1919), Der Steppenwolf (1927), and Das Glasperlenspiel (1943) – demonstrate the complexity in Hesse’s relation to canonicity throughout his writings as a whole« (73). Der Beitrag befasst sich vor allem mit der Rezeptionsgeschichte der genannten drei Romane. Was mir die Einschätzung dieses Beitrags so schwer macht, ist vor allem der Kanon-Begriff Bishops. In einem Abschnitt über Identitätskonstruktion schreibt er beispielsweise: »How difficult it can be to build one’s personality was experienced by Hesse himself, who had recourse to psychoanalysis on several occasions throughout his life, and for whom the central canonical problem of the construction of the self constituted one of the main themes of his writing« (75). An späterer Stelle schreibt er über die Montagetechnik, mit der Hesse Bestandteile unterschiedlicher Traditionen (literarische, religiöse, mythische) in seine Texte integriert habe: »From these canonical and anti-canonical elements Hesse constructs a new modernist myth« (77). Diese und weitere Textstellen legen nahe, dass ›kanonisch‹ hier so viel wie ›etabliert‹, ›opportun‹ oder ›gängig‹ bedeuten könnte. Weil Bishop leider unter Absehung der Kanonforschung argumentiert, lässt sich über seinen Kanon-Begriff nur spekulieren.

Leider ist Bishops Beitrag nicht der einzige, dem man ein fundiertes Interesse an Fragen der literarischen Wertung und der Kanonformation nicht entnehmen kann. In Tim Mehigans Beitrag (»Post-Critical Criticism: Robert Musil as an Example«) erfährt man manches über Musil und Heidegger, aber eigentlich nichts über Wertung und Kanon. Nun könnte man freilich argumentieren, dass die sich ändernden Urteile über Person und Werk etwas mit literarischer Wertung zu tun haben. Aber darf man von einem Band, der sich Literarische Wertung und Kanonbildung nennt, nicht etwas mehr erwarten als die Aufzählung zeitbedingter Urteile? Auch bei Fritz Wefelmeyer (»Literarische Ästhetik und Gedächtnis des Holocaust. Kanonbildung und die Debatte um Peter Weiss’ Werk«) geht es um Rezeptiongeschichte, um die Darstellung der Debatten um Peter Weiss vor dem Hintergrund u.a. der Darstellbarkeit der Shoah. Um Wertungs- oder Kanonisierungsfragen geht es ihm nur am Rande. Ich möchte auf diesen Beitrag und, aus demselben Grund, auch auf den Beitrag von Sara Lennox (»The Politics of Reading. A Half Century of Bachmann Reception«) nicht näher eingehen, weil mir der Bezug zum Thema des Bandes nur marginal verwirklicht worden zu sein scheint [2] und hier nicht der Ort ist, die Relevanz dieser Aufsätze für die Weiss- bzw. Bachmann-Forschung zu beurteilen.

Barbara Becker-Cantarino (»Ästhetik, Geschlecht und literarische Wertung, oder: warum hat Elfriede Jelinek den Nobelpreis erhalten?«) setzt sich zwei historische Schwerpunkte (die Zeit um 1800 und die Zeit nach der »zweiten (neuen) Frauenbewegung« [140] in den 1970er Jahren), wovon der erstgenannte der deutlich umfangreichere und auch überzeugendere ist. Sie zeichnet zunächst den Stellenwert der Kategorie Geschlecht bei der Beurteilung von literarischen Texten um 1800 nach und kann, illustriert mit zahlreichen Belegstellen bei W. v. Humboldt, Hegel, Schiller, Kant und Fichte, plausibel machen, inwiefern »die zeitgenössischen Ansichten über Frauen und der als natürlich gedachte Geschlechtsunterschied […] ein konstitutiver Faktor in den sich formierenden männlich konnotierten Wertvorstellungen über Literatur und Autorschaft« waren. Warum sie den Terminus »Ästhetik«, der ihrer Ansicht nach »[i]n der heutigen Germanistik« (127) inflationär, undeutlich und wenig reflektiert verwendet wird, durch den Begriff »literarisches Feld« ersetzt, leuchtet mir allerdings weniger ein. [3] Hätte sie das »literarische Feld« nicht nur als Metapher, sondern als Terminus einer sozialgeschichtlich oder literatursoziologisch akzentuierten Theorie ernst genommen, hätte ihr eigentlich nicht entgehen können, dass Frauen im literarischen Feld des 19. Jahrhunderts jedenfalls in einer Hinsicht ein Monopol hatten, nämlich im Führen von Salons, deren Bedeutung als Institution der Vermittlung zwischen Akteuren eines im Entstehen begriffenen Literaturbetriebs kaum zu überschätzen ist. Mochten Frauen als Autorinnen zwar als minderwertig gelten, hatte doch eine Elite von Salonièren das Privileg, mittels ihrer Salons, bei denen ihnen vorbehalten blieb, über die Einladung von Habitués und durchreisenden Gästen zu bestimmen, auf die Literatur Einfluss zu nehmen.

Wie stark die maskuline »ästhetische Ideologie« nachwirkt, versucht Becker-Cantarino im zweiten Teil ihres Aufsatzes nachzuweisen. Dass das Geschlecht auch heute noch einen erheblichen Anteil bei literarischen Wertungen hat (gleichermaßen bei Wertenden wie zu Bewertenden), dafür gibt es zahlreiche Indizien, auch wenn niemand, der ernst genommen werden möchte, seinen Wertmaßstab mit angeborenen Eigenschaften der Frau begründen wird. Ohne Empirie wird die Literaturwissenschaft hier kaum mehr als Vermutungen oder Allgemeinplätze hervorbringen können. Der Literatur-Nobelpreis eignet sich für eine Untersuchung, die geschlechtsabhängige Wertungsprozesse analysieren möchte, freilich denkbar wenig, weil hier schlicht die Transparenz der Entscheidungsfindung nicht gegeben ist [4] und die offiziellen Vergabebegründungen selten länger als ein Satz sind. Gleichwohl versucht Becker-Cantarino, die im Titel gestellte Frage zu beantworten, warum Elfriede Jelinek den Nobelpreis gewonnen hat.

Leider finden sich in diesem Absatz eine Vielzahl sachlicher Fehler und sehr pauschaler Urteile:

  1. Ein weites Feld ist bereits 1995, nicht erst 1997 erschienen. Ob dieser Roman oder die »Riesen-Medienkampagne, die sein Manager, sein Verlag und er [Grass] selbst inszenierten« (146) wirklich einen Anteil an der Entscheidung des Nobelpreis-Komitees gehabt haben, müsste freilich erst einmal belegt werden.

  2. Dass der deutsche Literaturbetrieb »vom Markt und seinen Machern beherrscht« wird, »wobei die (zumeist männlichen) Verleger und Literaturkritiker eine wichtige Rolle spielen, dazu ganz neu gegenüber 1800: die Literatur-Agenten und die Massenmedien Film und TV« (ebd.) kann man so nicht stehen lassen. Weniger, weil Literatur-Agenturen gar nicht ganz so neu sind, [5] sondern vor allem, weil sie – zumindest in Deutschland – eine Frauen-Domäne sind. Entscheidungsprozesse in Verlagen treffen nicht nur Verleger, sondern beispielsweise auch Lektorate, und auch dort ist der Frauenanteil sehr hoch. Gleiches gilt für die Literaturkritik in Zeitungen, Zeitschriften und im Rundfunk. Viele Schlüsselpositionen haben hier Frauen inne (nur als Beispiel: Sigrid Löffler, Iris Radisch, Ina Hartwig, Frauke Meyer-Gosau und, nicht zu vergessen: Elke Heidenreich).

  3. Matthias Matussek und Marcel Reich-Ranicki als Indiz dafür zu nehmen, dass die »Paradigmen der ›ästhetischen Ideologie‹« (148) bis in die Gegenwart nachwirken, ist bestimmt nicht falsch; die beiden haben das aber auch nie geleugnet. Opfer der Verrisse von Reich-Ranicki wurden freilich Männer und Frauen. »Kein Genie, aber doch geschickt« (147) ist bestimmt kein Urteil, das Reich-Ranicki Frauen vorbehalten hat.

  4. Der deutschsprachige Literaturbetrieb mag ja mittlerweile ein »Massenbetrieb« (149) sein, dennoch ist er bestimmt keiner »mit ca. 120 000 neu publizierten belletristischen Titeln in deutscher Sprache jährlich« (ebd.). Buch und Buchhandel in Zahlen verzeichnete für das Jahr 2006 mit rund 95.000 Neuerscheinungen einen neuen Höchststand, wovon aber der geringste Teil wirklich zur Belletristik gehört und davon wiederum nur ein Bruchteil dem »Kunstbetrieb« zuzuzählen ist.

  5. Becker-Cantarino begründet die positive Rezeption von Elfriede Jelinek damit, dass »[a]vantgardistischer ›Bürgerschreck‹ und Politik- und besonders Faschismus-Kritik […] in« (ebd.) seien. Ist es nicht eher so, dass gerade in Deutschland politisch engagierte Literatur doch derzeit einen schweren Stand hat, sowohl beim Lesepublikum als auch bei der Literaturkritik? Und welcher »avantgardistischer ›Bürgerschreck‹« hätte denn in den letzten Jahren im deutschsprachigen Literaturbetrieb reüssiert? Mir fällt keiner ein.

Diese schiefen Argumente hinterlassen zusammen mit den sehr pauschalen Schlussfolgerungen (zum Beispiel: »Die Wertkriterien und Vorstellungen von Literatur in der Literaturwissenschaft und -kritik sind labil, teils sogar in sich widersprüchlich« [ebd.]) beim Leser einen wenig überzeugenden Eindruck dieses zweiten Abschnitts.

Michael Minden fragt in seinem Beitrag (»Bestseller Lists and Literary Value in the Twentieth Century«) nach dem Zusammenhang von Bestsellerlisten und literarischen Wertungen. Nach einem kurzen, aber sehr instruktiven historischen Abschnitt widmet er sich seiner Kernthese: »›[T]he bestseller‹ is the major twentieth-century genre of the print medium« (166). Den Bestseller definiert er dabei als »a book that has received widespread popular recognition (has performed unusually well in relation to the number of copies sold). It is a form of cultural recognition that includes the fact of sales« und schlägt als deutsche Übersetzung den Terminus »Erfolgsbuch« (ebd.) vor.

So weit, so gut. Aber was bedeutet »bestseller as a genre« (167)? Es liegt auf der Hand, dass Minden ›Genre‹ nicht in Hinblick auf die thematischen oder motivischen Aspekte der Erfolgsbücher verwendet. Er greift vielmehr auf die Trias von Jost Hermand zurück, der zwischen Massenliteratur (bei Hermand: »Heftchen«) und anspruchsvoller Literatur, der eine »anstrengende und vereinsamende Rezeptionsweise« (ebd.) eignet, die »zone of the bestseller« lokalisiert, in der »the wishes and dreams of the lower middle classes are indulged« (ebd.). Minden möchte diese Einteilung um ihre wertenden Implikationen reduzieren. Er hält fest: »Heftchen and good books are defined by their intentions (albeit different ones), bestsellers are defined by their success« (168). Hinzu kommt, dass Bestseller nicht ›gemacht‹ werden können: »The bestseller lists have in common with the democracies in which they exist that, over and above all the associated spin, they are in a significant sense the results of chance« (ebd.). Und weiter unten heißt es:

Nevertheless, the relation between the genre of the bestseller and that of literary value is not mysterious or difficult to grasp, once one accepts that the bestseller is a genre, that is, a type of book recognised and acknowledged by society, by virtue of the aura of popular success. My point is that, in a sense, we all know the relative value of books to be found in the lists. We know that Grass is better than Simmel and Simmel better than Konsalik. (169)

Ach, wenn es doch nur so einfach wäre. Minden geht es offenbar vor allem darum zu zeigen, dass der Bestseller-Status nichts mit dem qualitativen Status eines Buches zu tun hat. Die Grass-Simmel-Konsalik-Ungleichung kann ich noch nachvollziehen (auch wenn die eigentlich interessante Frage für mich wäre, warum ich zu demselben Resultat komme), aber folgt daraus, dass wir in allen Fällen unserem intuitiven Urteil trauen können oder dass wir in jedem Fall intuitiv zum selben Resultat kämen? Nehmen wir Daniel Kehlmann als Beispiel oder Martin Walser oder Julia Franck, alle Bestseller-Autoren. Wie würde denn hier die Ungleichung lauten? Wie steht’s mit Bret Easton Ellis, Wolf Haas oder, um ein Beispiel aus dem vorliegenden Band zu nennen, Philip Roth (für Matthias Matussek nobelpreiswürdig, Barbara Becker-Cantarino nennt ihn einen »unterhaltsamen, Edelpornographie produzierenden« (147) Autor)? Zeigen die andauernden Diskussionen um den Kanon nicht gerade, dass die vermeintlich trennscharfe Einteilung der literarischen Welt nach highbrow, middlebrow und lowbrow fragwürdig geworden ist?

Katrin Kohl widmet sich in ihrem Aufsatz (»Festival, Performance, Wettstreit. Deutsche Gegenwartsliteratur als Ereignis«) neueren Entwicklungen (oder Moden) im deutschen Literaturbetrieb, in dem sich für sie seit den 1990er Jahren eine »Intensivierung der Performanz« (173) konstatieren lässt, die »Teil eines Paradigmenwechsels« ist, und gibt dafür fünf Beispiele: Literaturhäuser, Literaturfestivals, Poetry Slam, das Internet und den Poetryfilm. Ihre Kernthese lautet, dass es sich bei diesen Erscheinungen um die »Fortführung einer mündlichen Tradition« (ebd.) handelt, der mit den Beschreibungskategorien der »im Idealismus gründende[n] Autonomieästhetik« (188) nicht beizukommen ist. Damit die Literaturwissenschaft der »besondere[n] Herausforderung« (ebd.), vor die sie die performative Vielfalt stellt, gerecht werden kann, empfiehlt sie einen anderen Weg:

Als Alternative steht jedoch die Einbeziehung der inzwischen eingehend erforschten rhetorischen Tradition zur Verfügung, womit sich die Verwirklichungsformen der Literatur, die Kriterien für ihre Bewertung und die Möglichkeiten der diachronischen und synchronischen Verortung nicht nur in Bezug auf die literarische Vergangenheit, sondern auch in Bezug auf die Gegenwart und Zukunft erweitern. (189)

Ob das wirklich funktioniert, müsste freilich erst genauer gezeigt werden. Dass für Texte, bei denen die Performanz im Vordergrund steht und die in erster Linie mündlich tradiert werden, zu einem Teil andere Wertungskriterien gelten als für gelesene, ist der Wertungsforschung auch durchaus bekannt. Kohl hätte ihren eigenen Vorschlag präzisieren können, indem sie beispielsweise auf die von Heydebrand/Winko aufgestellten »Hypothesen zur Wertung mündlicher Tradition« eingegangen wäre. [6] Die neueren performativen literarischen Formen, Medien und Vermittlungsinstanzen schließen für sie an Traditionen an, bei denen das gesprochene Wort »erst im öffentlichen Kontext verwirklicht« wird. Den Poetry Slam sieht sie, »bei allem grundlegenden Unterschied« (188) in der Tradition des Meistersangs: Beide seien geregelt von einem klaren Ablauf, auf öffentlichen Wettstreit zentriert, und beide sind für sie urbane Literaturformen »mit einer stark auf die einzelnen Städte fokussierten Lokalkultur« (ebd.). Möglicherweise lässt sich diese Literaturform auf diese Weise angemessener beschreiben, als wenn man sie nur in Relation zur klassischen Dichterlesung setzt. Doch stellt sich gleichzeitig die Frage, ob man den deutschen Poetry Slam wirklich ohne die Anschlüsse an seine anglo-amerikanischen Ursprünge – auf die Kohl nicht eingeht – angemessen deuten kann.

In Hinblick auf ihre Beurteilung der an diesen Entwicklungen partizipierenden Publikumsgruppen würde ich Kohls Ausführungen um einen Aspekt ergänzen wollen. Sie schreibt, dass durch das Rilke-Projekt von Richard Schönherz und Angelica Fleer »Rilke Teilen der Bevölkerung nahegebracht wurde, die sich sonst eher für Popkultur interessieren« (179). Wäre bei diesem Cross-Over-Produkt nicht das Gegenteil genau so wahrscheinlich, nämlich dass damit die Popkultur Menschen nahe gebracht wurde, die sich sonst eher für Rilke interessieren? Auch ihre Einschätzung des Internet, das Kohl zufolge »die unbeschränkte, von keiner Autorität begutachtete Veröffentlichung neuer Werke« ermöglicht, ist vielleicht zu idealistisch gedacht. Wäre dies tatsächlich so, dann wäre das Internet die ideale autonomieästhetische Plattform. Natürlich ist es einerseits richtig, dass mich niemand daran hindert, meinen Roman ins Internet zu stellen. »Veröffentlicht« ist er aber erst dann, wenn er auf Resonanz von Seiten der Öffentlichkeit stößt, und da würde ich mir schon sehr wünschen, dass die Öffentlichkeit auch Menschen einschließt, die hinreichend kompetent sind, um als Autoritäten meinen Text beurteilen zu können. Zu überlegen wäre ferner, ob für die Zukunft die »schriftliche Form […] für die Kanonbildung maßgeblich« (175) bleibt und keines der von Kohl analysierten Werke (z.B. der Poetry-Film POEM von Ralf Schmerberg oder das Looppool-Projekt von Bas Böttcher) »den Status eines Klassikers erreichen wird« (188). Bas Böttcher ist vom Goethe-Institut schon um die halbe Welt geschickt worden, und der Sammelauftrag der Deutschen Nationalbibliothek umfasst seit 2006 auch Netzpublikationen, eingeschlossen die so genannten »webspezifischen Publikationen«. Vielleicht sind das erste Schritte zur Kanonisierung.

Der den Band beschließende Aufsatz von David E. Wellbery (»Evaluation as Articulation. A Defense of Kant on Literary Value«) ist zunächst ein ausführlicher Stellenkommentar zu den ersten beiden Absätzen von § 7 der Kritik der Urteilskraft, jene oft zitierte Passage, in der Kant bei seiner Analyse des Geschmacksurteils auf den Unterschied in der Anschauung und Beurteilung vom Angenehmen und Schönen zu sprechen kommt. Ihm ist es darum zu zeigen, dass »the space within which we find ourselves when we take up questions of value and canonicity, is at least structurally continous with that of the eigthteenth century« (191). Um die Relevanz von Kants Ästhetik für das 21. Jahrhundert und insbesondere dieses Textabschnitts zu demonstrieren, dem Wellbery zufolge »a canonical status in the attack on axiology« (194) zukommt, widmet er sich zunächst den Einwänden, die Gérard Genette, Barbara Herrnstein Smith, John Guillory und Pierre Bourdieu dagegen vorgebracht haben. Während der Haupteinwand der beiden Erstgenannten, grob gesprochen, laute, dass sich Kants Geschmacksurteil einer nicht legitimierten Normativität bediene, kritisiere Guillory, ebenso grob gesprochen, Kant vor allem deswegen, weil seinem Geschmacksurteil das Fundament einer Gesellschaftsanalyse fehle, das die sozialen Bedingungen des Sprechens über Werte reflektieren würde. Herrnstein Smith, Guillory und Bourdieu hätten eine wesentliche Gemeinsamkeit: »all three want to replace the dead-end discourse on aesthetic value with an economic discourse« (193). Auf Bourdieus ausführliche Kant-Kritik in Die feinen Unterschiede weist Wellbery zwar hin, intensiver scheint er sich aber vor allem mit Genette und Herrnstein Smith auseinander gesetzt zu haben. In Bourdieus Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft steckt freilich mehr als bloß der Wunsch, einen ästhetischen Diskurs durch einen ökonomischen zu ersetzen. Daher kann Wellbery hier nicht wirklich überzeugen.

In seiner Auseinandersetzung mit Genette und Herrnstein Smith lautet seine These nunmehr, dass sie Kant in dieser Passage missverstehen würden. Das Geschmacksurteil, mit dem man, um mit Kant zu sprechen, »nicht bloß für sich, sondern für jedermann« urteile, verweise nicht auf einen sensus communis; vielmehr stünden hinter dem Sprechen über das Angenehme bzw. das Schöne zwei unterschiedliche Bedeutungskonzepte, die man hinsichtlich ihrer Präsuppositionen und Implikationen auseinander halten müsse. Das Urteilen über das Schöne sei nicht vorstellbar als etwas, das sich nur auf denjenigen beziehe, der urteile; es impliziere dagegen schon grammatisch den Anspruch, dass dieses Urteil Gültigkeit über den Sprecher hinaus habe: »Kant is not saying: the normativity of the judgment of taste is justified by the independent existence of a sensus communis, by the demonstrable fact that all people do agree with it. He is rather saying that you cannot make a judgment of taste that is purely ›for me‹« (195).

Dementsprechend betont Wellbery im Folgenden die kommunikative Funktion des Geschmacksurteils: »When I say something is beautiful I am taking my experience and a feeling that could be and ought to be held by you, and indeed by everyone vis-à-vis the object in question. I am inviting you to join me in this feeling« (197). Im Anschluss stellt er, das Vorangegangene resümierend, drei Thesen auf, die zeigen sollen, »that Kant’s philosophy offers us useful tools for thinking about the issues of literary value and canon formation« (198). Kants Geschmacksurteil sei erstens nicht normativ: Das Modalverb »sollen« beziehe sich nicht auf eine universell geltende und außerhalb des Geschmacksurteils stehende Werte-Sphäre, sondern bedeute vielmehr, dass sich Geschmacksurteile nur im intersubjektiven Raum vollziehen, »within which the judgment must be tried and tested« (ebd.). Zweitens sei ästhetisches Werten nach Kant ein kommunikativer Prozess, bei dem die persönliche Kontingenzerfahrung sozial werde. Ästhetische Kommunikation habe keinen anderen Anhaltspunkt als das eigene Gefühl, und »on Kant’s view what is happening here is that I offer this complexly derived feeling as the possible example of a feeling that is sharable, that, indeed, the very feel of its sharability, its communicability, is what prompts me to do this« (199). Drittens habe Kants Geschmacksurteil auch in Hinblick auf die Frage der Kanonformation bis heute einige Bedeutung. Wenn Kant den Status von kanonischen Werken als exemplarisch beschreibt, so tue er dies nicht, weil er davon ausgehe, dass alle bei der Beurteilung dieser Werke zum selben Ergebnis kommen würden. Exemplarische Werke seien vielmehr »occasions for free judgments of taste« (201).

Man kann darüber streiten, ob es zulässig ist, Kants Ausführungen zum Geschmacksurteil so stark auf ihren interpersonellen, kommunikativen Aspekt zuzuspitzen. Davon bleibt unberührt, dass dies einer der wenigen Beiträge im vorliegenden Sammelband ist, der sich die Mühe gemacht hat, sich auf einer theoretisierenden Ebene mit dem Zustandekommen von literarischen Wertungen auseinanderzusetzen. Schon deshalb ragt dieser Beitrag von Wellbery aus allen anderen Aufsätzen dieses Bandes heraus.

Dr. Matthias Beilein

Georg-August-Universität Göttingen

Promotionskolleg Volkswagenstiftung Wertung und Kanon

Anmerkungen

[1] Hier sei exemplarisch verwiesen auf: Renate von Heydebrand (Hg.), Kanon. Macht. Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen, Stuttgart/Weimar 1998. [zurück]

[2] Ganz am Rande sei mir allerdings die Frage gestattet, wie Fritz Wefelmeyer, der sich so intensiv mit dieser Thematik beschäftigt hat, sich einen Lapsus wie, Weiss sei »selbst Jude, genauer Halbjude« (110) erlauben kann und warum ihm die Herausgeber das durchgehen lassen. [zurück]

[3] Sie schreibt: »Ich schlage deshalb für diese qualitas occulta [gemeint ist die Ästhetik, M.B.] den wertfreien Ausdruck ›literarisches Feld‹ vor, einen offenen Prozeß mit einer Reihe von unterschiedlich gewichteten, historisch veränderlichen Aspekten, die jeweils zu untersuchen sind. Ich spreche also nicht von der Ästhetik als zu theoretisierendem Begriff und möchte keine bestimmte ideologische Ideologie einfordern, wie es zumeist in der deutschen Wertediskussion mit der Verteidigung eines Literaturkanons ›deutscher Klassiker‹ der Fall ist« (129). Zu ihrem Feldbegriff führt Becker-Cantarino in einer Fußnote weiter aus: »Den Begriff ›Feld‹ verwende ich in Anlehnung an das offene »Feld« oder »Raum«, einer Grundkategorie der älteren Soziologie, die in der Kultursoziologie Pierre Bourdieus wieder neu diskutiert wird« (129). Dagegen ließe sich einwenden, dass hier die eine qualitas occulta durch eine andere ersetzt wird. Im Folgenden verwendet Becker-Cantarino den Terminus »literarisches Feld« aber eher als Synonym für den literarischen Markt oder Literaturbetrieb. [zurück]

[4] »The statutes of the Nobel Foundation restrict disclosure of information about the nominations, whether publicly or privately, for 50 years. The restriction concerns the nominees and nominators, as well as investigations and opinions related to the award of a prize« (Nobel Web AB, Nobelprize.org, 2008, http://nobelprize.org/nomination/literature/process.html [17.08.08]). [zurück]

[5] Die erste Literaturagentur nahm in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts ihre Arbeit auf. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es mehr als hundert Literaturagenten in Deutschland (vgl. Andreas Graf, ›Ehrliche Makler‹ oder ›Ausbeuter der Schriftstellerwelt‹? Die Anfänge der Literaturagenturen in Deutschland, in: Ernst Fischer (Hg.), Literarische Agenturen – die heimlichen Herrscher im Literaturbetrieb?, Wiesbaden 2001, 85-99). [zurück]

[6] Vgl. Renate von Heydebrand/Simone Winko, Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik – Geschichte – Legitimation, Paderborn 1996, 166ff. [zurück]

2008-09-12

JLTonline ISSN 1862-8990

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Matthias Beilein, Der Vorhang zu und alle Fragen offen. (Review of: Nicholas Saul/Ricarda Schmidt [eds.], Literarische Wertung und Kanonbildung, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007.)

In: JLTonline (12.09.2008)

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