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Stefanie Lange

Die biologisch-kognitiven Grundlagen narrativer Motivierung: Wenn ein grundlegendes Thema der Narratologie auf Interdisziplinarität trifft

Die biologisch-kognitiven Grundlagen narrativer Motivierung. Abschlusskonferenz der Institutspartnerschaft zwischen dem Göttinger Deutschen Seminar und dem Szegeder Germanistischen Institut, Göttingen 3.-5. September 2014

Zum Abschluss der zweijährigen Institutspartnerschaft zwischen dem Göttinger Deutschen Seminar und dem Szegeder Germanistischen Institut fand eine Konferenz mit verschiedenen Vorträgen zu den biologisch-kognitiven Grundlagen narrativer Motivierung statt.

Katja Mellmann (Göttingen) gab eine Einführung in das Thema der narrativen Motivierung und klärte über grundlegende Begrifflichkeiten und Zusammenhänge auf, indem sie die (geschichtliche) Entwicklung des Konzepts erläuterte. Mit der Differenzierung zwischen kompositorischer und finaler Motivierung bzw. zwischen Erzählteleologie und erzählter Teleologie ergaben sich jedoch einige Fragen, wie beispielsweise die nach dem Verhältnis von text- und leserseitigen Faktoren. Auch zeigte sich im Laufe der Tagung, dass diese zunächst klare Unterteilung keineswegs immer eindeutig anwendbar ist und selbst das Verständnis von Motivierung schien bei den einzelnen Wissenschaftlern teils zu variieren. Mellmann gab des Weiteren einen Überblick über das Begriffsfeld von ›Kohäsion‹ und ›Kohärenz‹ und stellte die Bedeutung sprachlich manifestierter Textbezüge sowie textstrukturierender Zusammenhänge für die Entstehung von Motivierung heraus. In diesem Zusammenhang verwies sie auf verschiedene Wissenschaftssprachen und Formen sprachlicher Rekurrenz wie Anaphorik und Kataphorik. Hieraus ergab sich die Frage, ob sich die zugrunde liegenden psychischen Strukturen gleichen oder kategorial unterscheiden.

Es folgte ein thematisch spezifischer Vortrag von Márta Horváth (Szeged) über »Die Funktion des Realitätseffektes in der Motivierungsstruktur von Erzähltexten«. Als Einstieg resümierte sie das Konzept des Realitätseffektes, wie er von Roland Barthes im Kontext der strukturalen Analyse eingeführt wurde. Beispielhaft wurde die Beschreibung des Raums angeführt, bei der nicht alle Elemente eine Funktion für die Handlungsstruktur erfüllen, demnach dysfunktionale Details darstellen. Angemerkt wurde jedoch, dass eine Identifizierung der dysfunktionalen Elemente nur schwer möglich sei und eine Sinnzuschreibung von der individuellen Interpretation abhänge. Deshalb argumentierte Horváth dafür, dass der Begriff im Kontext eines rezeptionsorientierten Theorierahmens adäquater angewendet werden kann als in einer strukturalistischen Theorie. Horváth schlug weiterhin vor, den Realismusbegriff von Barthes zu erweitern, da die Deskriptionen hierbei keiner tatsächlichen Realität verpflichtet seien. Wurde der Realitätseffekt in der Epoche des Realismus durch die Darstellung des Wirklichen aufgewertet, so reicht nach Horváth dieses Phänomen über die Epoche hinaus, da Realismus im Sinne von Ian Watt als eine Grundeigenschaft des Romans angesehen werden kann. An einem Textausschnitt aus Kafkas Die Verwandlung wurde veranschaulicht, wie Elemente des Textes, die keine narrative Funktion besitzen, zum Aufbau einer mentalen Vorstellung des Lesers beitragen und somit im Leser den Effekt des Realen auslösen. Zum Schluss wurde darauf verwiesen, dass das Phänomen des Realitätseffektes für das Konzept der Immersion/Absorption eine besondere Relevanz besitzt, da es dazu beitrage, dass der Leser die fiktive Welt nicht nur als kohärent, sondern auch als etwas Welthaftes wahrnehmen kann.

Anschließend beschäftigte sich Anja Müller-Wood (Mainz) mit »Motivationsstrukturen in sequentieller Kurzprosa«. Darunter versteht sie eine Sammlung von Kurzgeschichten eines Autors, der diese selbst in einem Band veröffentlicht hat. Bisher fand diese Form in der Literaturwissenschaft wenig Beachtung, da die Kurzgeschichte an sich oft als abgeschlossenes Werk angesehen wird. Müller-Wood betonte jedoch, dass eine Kurzgeschichtensequenz mehr als eine Reihe individueller Geschichten sei und als Sequenz in den Gesamtzusammenhang eingeordnet werden müsse. Als Kern der Motivationsstruktur nannte sie die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den einzelnen Sequenzen und verdeutlichte das Prinzip der Ähnlichkeiten anhand der gleichbleibenden geografischen Lage (z.B. Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla). Ferner wurden mithilfe der Kognitionspsychologie die Vergleichsprozesse bzw. Analogieschlüsse erläutert, die der Leser vornimmt. Diese seien gerade bei sequentieller Kurzprosa durch besondere kognitive Effekte geprägt, da die Abgleichungsprozesse auf verschiedenen Ebenen ablaufen (innerhalb einer Geschichte, zwischen den Geschichten und zwischen Geschichte und Leserwelt). Zum Schluss ihres Vortrages betonte Müller-Wood noch, dass die Präferenz von Rezipienten häufig von der Intention des Autors abweiche und so die von diesem konstruierten Motivationsstrukturen nicht immer erkannt würden.

In seinem Vortrag »Motivierung im Erzähltext. Ein Systematisierungsversuch mit einem Blick auf die Geschichte des Erzählens« unterschied Harald Haferland (Osnabrück) grundlegend zwei Formen von Motivierung: Motivierung in der erzählten Welt (kausal) und vom Autor angelegte Motivierung (ästhetisch/kompositorisch). Betont wurde, dass die erzählte Welt hierbei eine unabänderliche Verlaufsform aufweise, die kausal gesetzt ist. Ferner differenzierte Haferland in diesem Zusammenhang zwischen nicht gesondert kausal motivierten und kausal motivierten Handlungszügen, wobei letztere in schwach bedingt (konsekutiv) und stark bedingt (konsequentiell) unterteilt wurden. Es folgte eine Anwendung dieser Einteilung auf einen Auszug aus Ian Flemings Dr. No, bei der sich jeweils für die Erzählsequenz und die verdeckten oder überdachten Folgereaktionen Motivationslinien ergaben. Es wurden folglich drei narrative Relationen vorgestellt: 1. Eine Ko(präsenz)-Relation verschiedener Sachverhalte, 2. eine konsekutive Relation und 3. eine konsequentielle Relation. Diese Relationen sollten laut Haferland anstelle der ›narrativen Kausalität‹ Anwendung finden. Abschließend ging Haferland auf die kompositorische Setzung ein, die einen Finalnexus auf der Ebene des Erzählens bedinge und die so den Kausalnexus auf der Ebene des Erzählten überlagere. Die angelegten Motivierungslinien ließen sich um die kompositorische Motivierung erweitern, sodass die Doppelbelegung des Motivierungsbegriffs verdeutlicht und problematisiert wurde.

Einen interessanten Untersuchungsgegenstand lieferte Camilla Di Biase-Dyson (Göttingen) mit ihrem Vortrag »Narrative Motivierung in den Erzählungen Altägyptens: Woraus entsteht eine nachvollziehbare Handlung?«. Anhand der altägyptischen Erzählungen Die Geschichte des Sinuhe und Die Erzählung des Wenamun versuchte sie, ägyptologische Textstudien und die biokognitive Literaturwissenschaft zusammenzuführen. Möglich mache dies die ähnliche Quellenbasis (schriftliche Daten), auch wenn es sich hier um antike Daten einer toten Sprache handelt. Die ausgewählten Geschichten seien insofern für eine Analyse interessant, da in ihnen aus heutiger Sicht ›continuity problems‹ auftauchen. Zur weiteren Analyse wendete Di Biase-Dyson das Motivierungsmodell mit der Differenzierung zwischen kausaler, finaler und kompositorischer Motivierung an. Für das Problem, die Motivation Sinuhes als einer wahrhaftigen Person nachzuvollziehen, sieht sie eine Lösung darin, der kompositorischen Motivierung eine größere Bedeutung zuzuschreiben als der kausalen. In Die Erzählung des Wenamun berichtet der Ich-Erzähler über Handlungen, bei denen er nicht zugegen war. Di Biase-Dyson sieht diese Situationen als vom Gott gesteuert (final) oder vom Gegner bestimmt an. In diesem Zusammenhang kam die Frage auf, inwiefern die Handlungen mit einem gesamten ›Gottesplan‹ verbunden sein können und welche Auswirkungen dies auf die Art der Motivierung habe. Resümierend wurde angeführt, dass das Motivierungsmodell neue Perspektiven für die ägyptologischen Textstudien biete. Zudem bestand der Wunsch nach einem Dialog, in dem berücksichtigt werden sollte, wie die Altägyptologie der biokognitiven Literaturforschung helfen kann.

In ihrem Vortrag »About the Role of Ostensive Communicative Context of Storytelling« berichtete Lívia Ivaskó (Szeged) über ihre Pilotstudie, wie Kinder in verschiedenen Kommunikationssituationen Geschichten (tales) auffassen. Grundlage der menschlichen Kommunikation bilde laut Ivaskó das gemeinsame Problemlösen, wobei die pädagogische Kommunikation auf dem imitierenden Lernen beruhe. Es wurde herausgestellt, dass frühe spezifisch menschliche Fertigkeiten der Interpretation von Geschichten, Erzählungen und Handlungen zugrunde liegen. Einen wichtigen Faktor stelle hierbei das Feedback Anderer, besonders der Eltern, dar, sodass die Kinder lernen, Ausdrücke und Handlungen anderer nachzuvollziehen. Als entscheidende Phase beschrieb Ivaskó das Alter zwischen einem und vier Jahren. Anschließend stellte Ivaskó ihre Pilotstudie vor, in der dreijährigen Kindern über einen Bildschirm kurze Geschichten vorgelesen wurden, wobei sie die Hypothese aufstellte, dass das Verhaltensmuster bei den erzählten Geschichten denselben Prinzipien folge wie der sogenannte Babytalk. Durch eine Erhebung mit vier verschiedenen Versuchsgruppen konnte diese Annahme gefestigt werden. So verloren die Kinder der Gruppe, bei der die Geschichte monoton erzählt wurde, schnell das Interesse, während bei angemessen betontem Vortrag selbst Geschichten, bei denen Phantasiewörter eingefügt worden waren, von den Kindern verstanden und in der Nacherzählung mit Begriffen aus ihrem Wortschatz ergänzt wurden. Abschließend stellte Ivaskó die Unterschiede zwischen ›everyday storytelling‹ und ›tales‹ heraus und ging auf die Fähigkeit von Kindern ein, die Unterschiede zwischen realen und fiktiven Elementen in Erzählungen zu erkennen

Es folgte Brigitte Rath (Innsbruck) mit dem Vortrag »Grenzen der Subjektivität als Motivierungsstrategie, Fokalisierung und Metempsychose«. Der Begriff der Subjektivität beschreibe einerseits die eigene Subjektivität und die damit verbundene Einschränkung der Weltwahrnehmung als einen kleinen Ausschnitt, und andererseits die Tatsache des individuellen Begrenztseins als etwas Universelles. Vor diesem Hintergrund beschrieb Rath das Motiv der Transmigration als Überwindung der körperdeterminierten Subjektivität, die eine fiktive Möglichkeit schaffe, Seele und Körper zu trennen und in mehreren Körpern (gleichzeitig) zu sein. Verschiedene Textteile können hierbei durch unterschiedliche Charaktere eine variable interne Fokalisierung oder durch nur einen Charakter, den Ich-Erzähler, eine feste interne Fokalisierung aufweisen. Letztere ermögliche die Herstellung von Kausalverknüpfungen, indem eine Figur als jemand/etwas anderes wiedergeboren wird. Somit entstehe eine neue Ebene der Motivierung, die Rath in Anklang an den Begriff der ›poetischen Gerechtigkeit‹ als karmatische Gerechtigkeit bezeichnet. Rath griff zudem die Frage auf, ob wir als Leser die Subjektivität anderer in der Lektüre erfahren können. Dies beantwortete sie mit einem klaren Nein, betonte jedoch, dass eine Beeinflussung der Imagination durch autobiographische Erinnerungen stattfinde.

Mit ihrem Thema »Kognitive Experimente: Über den Zusammenhang zwischen Theory of Mind und Motivierung in literarischen Erzähltexten« ging Stefanie Luther (Göttingen) auf die Rolle der Theory of Mind als leserseitiges Motivierungsmittel ein. Im Fokus standen hier die besonderen Bedingungen der kognitiven Textrezeption im Unterschied zu realen sozialen Situationsmodellen. Bei der Erläuterung der Theory of Mind ging Luther auf die retrospektive Handlungsinterpretation und die prospektive Antizipation sowie die möglichen Informationsquellen zur Eingrenzung der Handlungsinterpretationen ein. Bezügliche letzterer führte sie das Prinzip der rationalen Handlung, die generalisierten Wissensrepräsentationen und die mentalen Modelle, die die eigene Umwelt repräsentieren, an. Zusammenfassend wurde die Theory of Mind als kognitiver Algorithmus dargestellt, der dabei hilft, mentale Handlungen und Vorgänge zu attribuieren. Anschließend ging Luther darauf ein, was dieses Konzept für die Handlungsmotivierung in literarischen Texten bedeutet und ob das textuelle Informationssystem die Grundlage zu angeleiteten Modellierungen der Text-Welt bietet. Sie kam zu dem Schluss, dass die Theory of Mind ein wichtiges kognitives Werkzeug darstellt, welches zur Herstellung von handlungsmotivierenden Zusammenhängen in literarischen Erzähltexten genutzt werden kann. Ferner ließen sich die durch einen Erzähltext vorgegebenen Parameter der Informationslage von der Informationslage des realen Kontextes unterscheiden und die kognitiven Anforderungen bei der Textrezeption wiesen eine Abhängigkeit von den individuellen semantischen und strukturellen Eigenschaften des einzelnen Textes auf.

Im Anschluss an den Vortrag wurde über das Potential der Theory of Mind diskutiert. Unter anderem wurde eine zweite Ebene zur Betrachtung vorgeschlagen: Neben der Frage, wie der Leser die Theory of Mind nutzt, könnte auch hinterfragt und erforscht werden, wie der (Ich-) Erzähler die Theorie innerhalb der erzählten Welt anwendet.

Eine kognitionslinguistische Perspektive auf das Thema der narrativen Motivierung stellte Sophia Wege (München) mit ihrem Vortrag »The Way we Think. Raumkohärenzbildung am Beispiel des Weg-Ziel-Schemas« vor. Als Grundlage der kognitiven Linguistik wurde ›Embodiment‹ (›Verkörperlichkeit‹) erläutert, welche den menschlichen Körper als eingebettet in eine strukturierte und uns angepasste Umwelt auffasst. Entscheidend für ›Embodiment‹ sind nach Wege die Situiertheit und Erfahrungshaftigkeit. Auf das Sprachverstehen übertragen bedeutet dies, dass ein Zusammenspiel von konzeptualem Verstehen, Erfahrungsprozess und Image-Schemata besteht, wobei letztere eine Orientierung in der Welt durch wiederkehrende Handlungen bieten. Zu diesen Image-Schemata kann auch das von Wege anschließend genauer erläuterte Weg-(Ziel-)Schema gezählt werden, welches sich wiederum innerhalb der Orientierungsschemata verorten lässt. Mittels der Image-Schemata können Weg-Ziel-Schemata in literarischen Texten verstanden werden, sodass erstere zur Entstehung von Kohärenz beitragen. Zu beachten sind laut Wege das Representational Momentum, welches kognitive Fehlleistungen bedingt, und der kulturhistorische Kontext, in dem Image-Schemata betrachtet werden müssen. Abschließend erläuterte sie die Bildung und das Prinzip von Raummetaphern. Es wurde deutlich, dass Ereignisstrukturmetaphern in Erzählungen omnipräsent sind und eine raummetaphorische Strukturierung vornehmen (z.B. die Handlung schreitet voran). Mittels Image-Schemata und des erzählten Raum kann der Prozess der metaphorischen Projektion jedoch auch invertiert werden. Eine Reise vom einen zum anderen Ort kann so als Lebensweg, innere Entwicklung etc. gedeutet werden. Auch das Weg-Ziel-Schema sei omnipräsent und der Mensch auf dem Weg stelle eine Universalie dar, wobei dieser Weg besonders in Reise- und Abenteuergeschichten sowie Märchen eine herausragende Rolle spielt. Wege betonte, dass das Weg-Ziel-Schema dazu diene, die Raumkohärenz von Texten zu organisieren.

In der Diskussion wurde deutlich, dass das Weg-Ziel-Schema ähnlich wie die Theory of Mind zunächst als basales Konzept erscheint, welches jedoch durch die konkrete Anwendung auf Literatur zum Spezialfall wird.

Endre Hárs (Szeged) nahm in seinem Vortrag »Motivierung und Raumnarratologie. Mit einer Reise zum Nordpol« folgende Differenzierung des Motivierungsbegriffs vor: Rezipientenmotivierung, diegetische Motivierung und kompositorische Motivierung. Unter Rezipientenmotivierung verstand er solche Fälle von Motivierung, in denen die fiktionalen Texte auf die adaptierten kognitiven Leistungen des Lesers abheben, sodass die Grenzen zwischen Fiktionalem und Realem flüssig werden. Der Leser vollziehe den Raum nach und bewege sich im eigenen konstruierten Modell des Raumes, sodass sich unter diesen Leserleistungen die Raumwahrnehmung ansiedeln lässt. Die diegetische Motivierung beziehe sich im Kontext des erzählten Raums auf die spezifischen Regeln des Erzählens und der Rezeption. Der Raum sei demnach eng an den Text gebunden und schaffe einen Ereignisrahmen für stattfindende Handlungen. Die Gesamtkomposition betreffend könne der erzählte Raum selbst zum Thema werden und so kompositorisch motiviert sein. So werde der Ortswechsel selbst zum zentralen Merkmal bestimmter Gattungen. Bezogen auf das ausgewählte Beispiel Eine Reise zum Nordpol von Mór Jókai (1825-1904) erläuterte Hárs die Dialektik von Fortbewegung und Bleibe (diegetische Motivierung), den Höhlenspaß (Rezipientenmotivierung) und die Zeiträume (kompositorische Motivierung). Die Motivierung steigere sich somit vom diegetisch zurückgelegten Weg über das Nachvollziehen von Raumwahrnehmung aller Art zur symbolischen Aufladung durch Räume der Zeit.

Die triadische Einteilung des Motivierungsbegriffs von Hárs lieferte Anlass zur Diskussion, da unter anderem der Einwand bestand, dass jede Motivierung vom Rezipienten abhängig ist. Hárs betonte jedoch, dass die getroffene Einteilung auf der unterschiedlichen Attribuierung beruht, ob der Leser die Deutungen sich oder dem Text zuschreibt. Was sich (ungeachtet der Terminologie) an dieser Diskussion zeigte, war das Bemühen, den ursprünglich narratologischen Motivierungsbegriff kognitivistisch zu erweitern.

Es folgte ein Vortrag von Berenike Herrmann (Göttingen) mit dem Thema »›Läuse im Pelz der Sprache?‹ Zu den Funktionen von Modalpartikeln in narrativen (De-)Motivierungsstrategien der Klassischen Moderne«. Zunächst klärte sie, wieso Modalpartikel sich für eine Untersuchung von (De-)Motivierungsstrategien eignen und nicht als bloße ›Läuse‹ angesehen werde müssen. Trotz ihrer schwer zu beschreibenden Bedeutung und obwohl sie den Wahrheitsgehalt einer Aussage nicht ändern, üben sie doch eine illokutionäre Kraft aus und haben kohäsive/kohärenzstiftende Funktionen. Mithilfe der digitalen Stilistik (Keyness-Analyse) vergleicht Herrmann verschiedene Autoren-Korpora (Kafka, Trakl, Meyrink, Schnitzler) mit einem Referenzkorpus Neuerer Deutscher Literatur. Die entstehenden Listen (Keyness-Rang 1-100) zeigen, welche Wörter für den jeweiligen Autor typisch sind, wobei die Vielfalt der Modalpartikel bei Kafka am weitaus größten ist. Herrmann ging anschließend auf die Funktion der Modalpartikel ein, eine Äußerung in einen Interaktionszusammenhang einzubinden und einen Bezug zu einer vorangegangenen Äußerung herzustellen. Zwischen den interagierenden Personen entstehe so ein Common Ground, von dem sie wissen, dass er existiert, sodass hier ein Bezug zur Theory of Mind besteht. Nach Herrmann führen die Modalpartikel zu einer Modifikation und Verwaltung des gemeinsamen Redehintergrunds. Anschließend verdeutlichte sie ihre Ausführungen beispielhaft an ›ja‹ und ›doch‹ und bezog sich im Speziellen auf Auszüge aus Das Urteil. Durch ihre Untersuchungen kam sie zu dem Schluss, dass Modalpartikel als textuelle Elemente der kausalen und kompositorischen Motivierung einen Beitrag zur Figurencharakterisierung, zur Illokution und zur Anaphorik in der Story World liefern. Indem die Modalpartikel in der literarischen Sprache zur Herstellung und Infragestellung von Kohärenz verwendet werden, tragen sie zur Verwaltung von kausaler und kompositorischer Motivierung bei.

Erzsébet Szabó (Szeged) referierte »Über den Zusammenhang der kausalen und kompositorischen Motivierung und der Struktur der fiktionalen Erzählungen«. Szabo griff somit die doppelte Motivierung narrativer Texte auf, wobei sie die kompositorische Motivierung zunächst in Anlehnung an Martínez als Autorintention auffasste, welche künstlerischen Kriterien folgt. Jeder fiktiv narrative Text liefere jedem Leser zwei Perspektiven für die Erklärung der narrativen Welt. Des Weiteren fand der Fiktionsvertrag Erwähnung. Für die Dauer des Lesens nehme der Leser Sachverhalte als wahr an, obwohl er weiß, dass diese fiktional sind. Dem Autor ist ein Spiel mit Sprache möglich, welches der Leser akzeptiert, ohne den Text auf die reale Welt zu beziehen oder auf den empirischen Autor und dessen Aussagen zurückzubeziehen. Demnach müsse nach Szabo das Konzept von Martínez modifiziert werden. Im weiteren Verlauf erläuterte sie das Konzept der kognitiven Scope-Syntax und des Pretense Play, um die Verknüpfung von kausaler und kompositorischer Motivierung aufzuzeigen. Sie ging auf die zwei Ebenen der entkoppelten Repräsentation und der Skopusinformationen ein sowie auf die Metarepräsentationen (parallele Repräsentationen). Die Doppelstruktur von Pretense-Spielen bezog sie anschließend auf fiktionale Texte und erwähnte, dass sich diese nur in Störungen zeige, und zwar indem eine Unterbrechung auf der Ebene der fiktionalen Welt stattfindet. Hier müsse der Leser auf die Ebene der Pretense, deren Quelle der Autor ist, zurückgreifen, sodass hier ein Zusammenwirken der kausalen und kompositorischen Motivierung entsteht. Auch eröffnete sich so die Frage, ob Pretense, ein Begriff aus der Psychologie, helfen könne, das Konzept der Autorintention zu beschreiben.

Im Anschluss berichtete Katja Mellmann (Göttingen) über »Monokausalität und Intentionalität«. Zunächst verwies Mellmann auf den geläufigen Reduktionismusvorwurf, biokognitive Literaturstudien reduzierten ein komplexes Verhalten - in diesem Fall die Literatur - auf kognitive Fähigkeiten. Da die Benennung einer Komponente jedoch nicht den Ausschluss einer anderen bedeute, Verhalten also von Biologie und Kultur zugleich bestimmt wird, sah sie darin ein Beispiel für eine Tendenz zum monokausalen Denken. Diese Verhaltenstendenz begründete sie mit Bezug auf die Evolution über den Erfolg der Konzentration auf eine Ursache, was dazu geführt habe, dass den Menschen multifaktorielles Denken schwer falle. Anschließend stellte sie das Denkmuster der Abduktion vor, eines Schlussverfahrens, bei dem die Anfangsbedingungen unbekannt sind und eine allgemeine Regel erst gefunden werden muss. Monokausalität und Abduktion seien unbewusst ablaufende kognitive Prozesse beim Verstehen von Geschichten, das sich als Nebeneinander unsauberer Schlussverfahren beschreiben ließe. Beispielhaft wurde das Strukturmodell der Abduktion auf die Moderne Sage angewendet, welche als wahre Geschichte weitererzählt wird und eine einfache Ursache-Wirkungs-Verknüpfung aufweist. Bedeutend sei hier, dass es vielmehr die Intentionalität als die Kausalität ist, die die Geschichte zusammenhält. Als latentes Prinzip gerate es nicht in das Bewusstsein des Lesers, forme aber Muster aufgrund wiederkehrender kognitiver Schaltungen.

Annekathrin Schacht (Göttingen) stellte in ihrem Vortrag »Spannung als Rezeptionsphänomen« die Evozierung von Emotionen beim Leser als eine zentrale Funktion von Literatur heraus und ordnete das Spannungsphänomen darin ein. Zentraler Aspekt der referierten Studie ist herauszufinden, wie spannende narrative Strukturen im Vergleich zu nicht spannenden Passagen vom Leser beurteilt werden. Wichtige Untersuchungskomponenten sind hierbei die physiologischen Reaktionen und der Zusammenhang mit anderen kognitiven und emotionalen Dimensionen des Leserlebens. Eine Frage, deren Beantwortung der Hilfe von Seiten der Literaturwissenschaft bedarf, ist die nach den sprachlichen und inhaltlichen Textmerkmalen, die die Reaktionen auf Spannung bedingen. Die Untersuchung von Schacht et al. gliedert sich in drei Teile: Erhebung mittels Fragebögen und Auswahl geeigneter Texte, Präsentation der Texte in gesprochener Form und natürliches Lesen auf iPads. Erste Ergebnisse zeigen, dass deutliche Zusammenhänge zwischen Spannung und emotionaler Beteiligung am Text bestehen, wohingegen sich zwischen spannung/emotions-relatierten Variablen und kognitiven Variablen nur geringe Korrelationen finden lassen. Vorläufig war festzustellen, dass sich mithilfe peripherphysiologischer Parameter subjektives Spannungsempfinden abbilden lässt und dass das Rating der empfundenen Spannung zwischen Experten (Germanisten) und Laien eine hohe Übereinstimmung aufweist. Schacht gelang so eine Identifikation von signifikant höherer versus verminderter Spannung, wodurch die Frage nach den textuellen/inhaltlichen Merkmalen, welche die Spannungsrezeption bedingen, noch verstärkt wurde. Als eine mögliche Annäherung stellte Schacht die Betrachtung der emotional konnotierten Wörter vor.

In ihrem Schlusswort griff Márta Horvárth noch einmal die Vielschichtigkeit des Konzepts der Motivierung auf und erklärte die in den Diskussionen immer wieder manifest werdende Unvereinbarkeit verschiedener Auslegungen des Motivierungsbegriffs mit den unterschiedlichen Möglichkeiten seiner Klassifizierung. So sei die Aufteilung von Martínez und anderen durchaus erweiterbar bzw. je nach Gesichtspunkt veränderbar. In den Vorträgen wurden unter anderem Einteilungen nach impliziten und expliziten Motivierungsstrategien oder nach der Ebene der erzählten und erzählenden Welt vorgenommen. Anschließend fasste Horváth zusammen, welche kognitiven Mechanismen sich in den Vorträgen als grundlegend für die narrative Kohärenzbildung erwiesen haben, und zählte unter anderem Intentionalität, Kausalität, Image-Schemata und Theory of Mind auf. Deutlich geworden sei so auch, dass mit Begriffen und Konzepten aus fachfremden Disziplinen versucht wurde, sich dem Phänomen der Motivierung – inklusive seiner Facetten und Komplikationen – zu nähern und so den Blick zu erweitern. Abschließend machte Horváth deutlich, dass die meisten Arbeiten zwar theoretischer Natur seien, eine Unterstützung durch die empirische Forschung dennoch enorm wichtig sei, um fruchtbare Erkenntnisse über die biologisch-kognitiven Grundlagen zu gewinnen. Ein Sammelband mit den schriftlichen Ausführungen der gehaltenen Vorträge ist in Vorbereitung.

2014-11-24

JLTonline ISSN 1862-8990

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Stefanie Lange, Die biologisch-kognitiven Grundlagen narrativer Motivierung: Wenn ein grundlegendes Thema der Narratologie auf Interdisziplinarität trifft. (Conference Proceedings of: Die biologisch-kognitiven Grundlagen narrativer Motivierung. Abschlusskonferenz der Institutionspartnerschaft zwischen dem Göttinger Deutschen Seminar und dem Szegeder Germanistischen Institut, Göttingen 3.-5 September 2014.)

In: JLTonline (24.11.2014)

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