Tom Kindt

Ulrike Küchler

An der Schwelle zur Präsenz:

Erleben und Erzählen

Präsenz und Text. Strategien des Transfers in Literatur(wissenschaft) und Philosophie. Interdisziplinärer Workshop, 06.-08. Mai 2010, Eberhard Karls Universität Tübingen.

Das Phänomen der Präsenz wird gegenwärtig mit der gesteigerten Aufmerksamkeit ästhetischer Theoriebildung bedacht. Eine Aufmerksamkeit, die umso mehr berechtigt ist, als Präsenz in der hermeneutischen und (post)strukturalistischen Tradition der Auseinandersetzung mit Sinnproduktion und Sinnverweigerung, kurz: mit Bedeutung, eine eher untergeordnete Rolle spielte. Dieser Perspektivwechsel wurde bereits verschiedentlich eingefordert und theoretisiert [1] und Präsenz im intermedialen Vergleich für die komparatistische Arbeit fruchtbar zu machen gesucht. [2]

Präsenz wird jedoch oft in sehr unterschiedlichen Diskussionszusammenhängen thematisiert: Sie betrifft Fragen der Wahrnehmung ebenso wie poetologische Problemstellungen. Dieses Spektrum fassbar zu machen und auszudifferenzieren erlaubt ein interdisziplinärer Zugang, der literaturwissenschaftliche und philosophische Annäherungen an Präsenz zueinander in Beziehung setzt.

Rahmen und Zielsetzung des Workshops

Einen solchen Zugang machte der von Schamma Schahadat, Irina Wutsdorff (Slavistik, Tübingen) und Christiane Schildknecht (Philosophie, Luzern) organisierte interdisziplinäre Workshop Präsenz und Text – Strategien des Transfers in (Literatur)wissenschaft und Philosophie produktiv: Derzeit rücken für beide Disziplinen die Berührungspunkte von phänomenalem Erleben und Texterleben immer mehr ins Zentrum des Erkenntnisinteresses. Daran anschließend positionierte der Workshop Präsenz in einem Feld zwischen Unmittelbarkeit und (Ver-)Mittelbarkeit. Die leitenden Fragestellungen richteten sich dementsprechend auf Konzeptionen phänomenalen Bewusstseins, Möglichkeiten der intersubjektiven Teilhabe an Präsenzerfahrungen, die (Re)Präsentation von Präsenzerleben sowie die Spezifizität poetischer Sprache im Hinblick auf Präsenzerzeugung.

Der Workshop sollte seinen Ausgangspunkt im russischen Realismus nehmen, dessen Literatur die Organisatoren für die Problematisierung von Präsenz als besonders geeignet erachteten. Als exemplarische Texte wählten sie daher zur Vorbereitung Lev Tolstojs Der Tod des Ivan Il'ič (Smert' Ivana Il'iča, 1886) und Fëdor Dostoevskijs Die Sanfte (Krotkaja, 1876): Gerade die Todesszenen beider Texte zeichneten sich durch die Fiktionalisierung von Vergegenwärtigungsprozessen von Bewusstseinsinhalten aus und erwiesen sich durch die dadurch evozierte Spannung zwischen absolutem Präsenzerleben bei nahendem Tode als prädestiniert für die Diskussion. Die beiden Werke sollten daher für die aus Philosophie und verschiedenen literaturwissenschaftlichen Fachgebieten zusammengetroffenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen ersten, allen Workshopteilnehmern gemeinsamen literarischen Referenzrahmen darstellen.

Beide Werke boten in den einzelnen Diskussionen einen vergleichenden Bezugspunkt, standen dabei jedoch nur in ausgewählten Vorträgen im Fokus der Analyse. Durch eine sinnvolle Abstimmung der Beiträge des Programms sowie die anregende Moderation bestand jedoch weder die Gefahr zu disparater Redebeiträge noch zu verengter Blickwinkel: dies nicht zuletzt auch aufgrund der interdisziplinären Provenienz der Beitragenden und ihrer zwischen literarischer Konkretisierung und abstrahierender Begriffsbildung vermittelnden Perspektiven.

Vorträge und Diskussionen

Präsenzerleben und Textpräsenz

Diesen literaturphilosophischen Brückenschlag leistete bereits der erste Vortrag von Christiane Schildknecht (Philosophie, Luzern). Er leitete den Workshop ein mit der Frage nach einem »Themawechsel? Linien des Transfers zwischen phänomenalem Erleben und Texterleben«, danach also, ob und in welcher Form unmittelbares Erleben Eingang in den literarischen Text finden könne. Damit nahm der Beitrag auch die übergreifende Fragestellung des Workshops zum Anlass, eben jene Schnittstellen zwischen Wahrnehmung und Text zu problematisieren. In der Spannung zwischen der Ebene der Sprache und dem phänomenalen Bewusstsein steckte der Vortrag die für die weitere Diskussion maßgebliche Leitdifferenz des Präsenzbegriffs in transparenter Weise ab. Drei Eigenschaften zeichneten dabei das phänomenale Bewusstsein aus: die Qualität des subjektiven Erlebens, die Exklusivität der Innenperspektive sowie dessen Nichtbegrifflichkeit. Durch die kategoriale Verschiedenheit von Erleben und Begriffsbildung und das daraus resultierende Problem des sprachlichen Ausdrucks phänomenaler Qualitäten werde Nach- und vor allem Miterleben folglich zum Problem. Denn um Erleben begrifflich fassbar und intersubjektiv zugänglich zu machen, müsste auf einen Vorrat bereits bekannter Empfindungen zurückgegriffen werden: Wenn eine Person behaupte, sie habe Kopfschmerzen, könne ihr Gegenüber diese Aussage nur dann projektiv deuten, wenn sie diese Erfahrung bereits selbst gemacht und einen phänomenalen Begriff dafür zur Verfügung stehen habe. Insofern würden sich Präsenzerleben und sprachlicher Ausdruck von vornherein ausschließen. Andererseits seien jedoch gerade literarische Texte in der Lage, diesen Transfer von der nicht-propositionalen zur propositionalen Ebene zu vollziehen. Wie sich an Dostoevskijs Die Sanfte veranschaulichen ließ, wird Erleben in der Literatur zeitgleich Gegenstand der Darstellung und der Reflexion. Hier werde die phänomenale Erfahrung im bildhaften Ausdruck kommunikabel und bleibe trotzdem subjektgebunden.

In der Diskussion zeichneten sich nicht nur die für den weiteren Verlauf des Workshops zentralen Arbeitshypothesen, sondern auch die damit verbundenen Problemfelder ab, wovon zwei für das weitere Gespräch maßgebliche Aspekte besonders hervorzuheben sind: So stellte sich die Frage, ob die kategoriale Differenz von phänomenalem Erleben und sprachlicher Vermitteltheit aufrecht erhalten werden könne oder aber ausdifferenziert werden müsse. Zur Disposition stand weiterhin, inwiefern phänomenale Erfahrung im Sinne eines kulturellen Archivs schon immer präfiguriert sei und zudem die Verwendung phänomenaler Begriffe eine kommunikative Notwendigkeit darstelle, in der phänomenale Erfahrung und sprachlicher Ausdruck zur Synthese gebracht werden. Hinsichtlich des ersten Punktes erwiese sich die Abgrenzung je verschiedener Ebenen in der Beziehung der Präsenzerfahrung zum Raum-Zeit-Gefüge als sinnvoll, sei doch das historische Gewordensein einer Präsenz des kulturellen Archivs im Subjekt grundverschieden von der Kontingenz phänomenalen Bewusstseins. Daran schließe die im zweiten Punkt zum Ausdruck kommende Forderung einer Unterscheidung verschiedener Präsenzformen an, die unter anderem die subjektive Präsenz phänomenalen Bewusstseins von der mittelbaren, intersubjektiv teilbaren Präsenz im kommunikativen Akt abgrenzt. Literatur und Kunst allgemein – und das mache sie für die Untersuchung zu einem so fruchtbaren Diskussionsgegenstand – vereinten beide Ebenen in sich.

Archäologie des Präsentismus

Vor der Folie der konzeptionellen und systematischen Einordnung des Präsenzbegriffes untersuchte Igor’ Smirnov (Slavistik, Konstanz) dessen historische Dimension und Tradition. Der Vortrag »Absentia-in-Praesentia, Praesentia-in-Absentia, Praesentia« beleuchtete unter diesen drei Schlagwörtern drei ideengeschichtlichen Schichten, die in ihrer Applikation auf Avantgarde, Postmoderne und ›hyperreale Gegenwart‹ als literaturhistorische Strukturmomente qualifiziert wurden. Die begriffliche Verschiedenheit wurde inhaltlich insbesondere in der Vielstimmigkeit der zur Sprache kommenden Positionen zum Ausdruck gebracht. In diesem Nachzeichnen der Makrostrukturen der Entwicklung der Präsenz entwarf der Beitrag eine Genealogie, die deutlich machte, mit welchen unterschiedlichen Denktraditionen und theoretischen Positionen der Begriff in Relation gesetzt werden kann.

Ein derart pluraler Hintergrund, wie ihn der Vortrag anbot, eröffnete im Anschluss einen geeigneten Diskussionsraum, gerade in dieser konstituierenden Anfangsphase der Veranstaltung den eigenen Gegenstand, dessen theoretische Reichweite wie auch Abgrenzung gegenüber alldem, was ihn gerade nicht betrifft, kritisch zu reflektieren – sonst liefe man allzu schnell Gefahr, am Ende in der Präsenzfalle zu sitzen im Sinne eines ›Präsentismus als Mainstream-Philosophie‹, die alles und jedes in Bezug zu ihrem zentralen Begriff setze.

Präsenz und Rhetorik

Dies führte thematisch zum Zentrum des Workshops zurück, der Beziehung zwischen Philosophie, Präsenz und Literatur, und damit zu Irina Wutsdorffs (Slavistik, Tübingen) Überlegungen »Zur (Un)Möglichkeit der Erzeugung von Präsenz in literarischer Rede. Produktives Scheitern bei Tolstoj und Dostoevskij«. Die introspektive Schau von Bewusstseinsinhalten, die sich der intersubjektiven Teilhabe sonst entziehen, sei beiden Referenztexten des Workshops gemein. Der Vortrag fragte daher insbesondere nach einer begrifflichen Differenzierung verschiedener Arten von Präsenz und den damit verbundenen jeweiligen poetologischen Verfahren und Konsequenzen ihrer Erzeugung. Zentral seien in dieser Hinsicht die temporale Dimension der Präsenz, verstanden als Gegenwärtigkeit, sowie die Relation von literarischer Präsentation und Präsenz bei beiden Autoren. Es lasse sich an den gewählten Beispielen beobachten, wie der Versuch, das Jetzt einzufangen, zum Scheitern verurteilt sei. Der Beitrag besann sich dabei auch auf die Anschlussmomente zwischen dem künstlerischen und publizistischen Wirken Tolstojs und Dostoevskijs und hob vor allem die Nähe zwischen beidem im Werk Tolstojs hervor, die sich in einer durch den ausgeprägten Symbolcharakter zahlreicher Textstellen evozierten Sinnkomplexion ausdrücke. So wohne der Monologizität Tolstojs (Bachtin) letztlich ein bipolares Moment inne, das ihn der dialogischen Poetik Dostoevskijs insofern annähere, als die Werke beider schließlich Ausdruck eines Scheiterns am selbstgesetzten Ideal vormoderner Ganzheitlichkeit und Präsenz seien.

Die Diskussion ging von den beiden Kernrelationen des Vortrags aus: Sie hob rhetorische Verfahren der literarischen Präsenzerzeugung hervor, machte jedoch gleichzeitig die gerade für die literarische Analyse wichtige Differenzierung von ›Präsenz‹ und ›Rhetorik von Präsenz‹ deutlich. Präsenz, über die wir reden, höre auf, Präsenz zu sein. Insofern seien die Ebenen der Darstellung und des Dargestellten gerade mit Blick auf den Präsenzbegriff zu unterscheiden. Sie träfen gleichwohl in der Beziehung von Präsenz und Zeit in literarischen Texten wieder zusammen, sei doch am Beispiel Tolstojs zu beobachten, dass sich insbesondere das Durchbrechen der Sukzessivität von Zeitstrukturen und die damit evozierte Augenblickserfahrung als geeignet erweisen, um Präsenz zu erzeugen. Dem stünden die prozessualen Strukturen Dostoevskijs entgegen. Insofern zeigte sich hier insbesondere, wie sehr die Bestimmbarkeit von Präsenz vom jeweiligen Text abhängig ist.

Präsenz und Präsentation

Der Abendvortrag Gottfried Gabriels (Philosophie, Jena/Konstanz) vertiefte die zuvor bereits thematisierte Spannung zwischen poetischen Strategien und Präsenzerzeugung in der Auseinandersetzung mit »Präsentation statt Präsenz: Vergegenwärtigung durch Literatur«. In Abgrenzung von Gumbrechts These eines Weltverlustes [3] und der damit verbundenen Beschwörung von Präsenz verschob der Vortrag den Fokus von Präsenz im Sinne eines phänomenalen Erlebens auf Formen der ästhetischen Präsentation mit dem Ziel, Existenzaussagen und Erkenntnisleistungen der Literatur zu begründen. Er fragte daher zuallererst nach den Vergegenwärtigungsleistungen von Literatur und der Spezifizität der Präsentation von imaginierter Gegenwart. Für die Eingrenzung der poetischen Erkenntnisfunktion fiktionaler Literatur sei insbesondere die Spannung zwischen Faktualität und Fiktionalität zentral. Der Bereich des Faktualen könne seine Existenzberechtigung gerade in der Berufung auf Referenz im Sinne eines Wirklichkeitsbezugs legitimiert sehen. Das Kriterium des Fiktionalen bestehe hingegen gerade in seiner Referenzlosigkeit und markiere darin nicht etwa einen defizitären Charakter – ein Verdacht, dem sich das Fiktionale unweigerlich aussetze, sobald es über seine Abweichung von normalsprachlicher Rede definiert werde –, sondern gerade ein spezifisches Erkenntnispotential. Fiktionale Rede verzichte bewusst darauf, zu verweisen und könne gerade deshalb aufweisen; eine qualitativ verschiedene Form des Sich-Beziehens, die referenzieller Rede per definitionem vorenthalten bleibe, wie der Referent pointiert zusammenfasste: »Dichterische Erkenntnis vollzieht sich weniger im Sprachmodus des propositionalen Sagens als vielmehr im Sprachmodus des vergegenwärtigenden Zeigens.« Sofern vorhanden, bestehe die Funktion referenzieller Rede in der Dichtung folglich in der Konstitution eines Handlungsrahmens, dem Verweis auf Hintergrundwissen sowie insbesondere in einer durch den kategorialen Kontrast evozierten und insofern immer schon selbstreferentiellen Betonung des Fiktionalen, wie die Lektüre einiger Passagen aus dem Werk Gottfried Kellers demonstrierte. So konnte Gabriel, im weiteren Rückgriff u.a. auf die bekannten Beispiele Tolstojs und Dostoevskijs, aber auch auf andere Autoren der europäischen Literaturgeschichte von Wieland bis Joyce, resümieren, dass gerade die nicht-propositionale Form des Fiktionalen ihren spezifischen Eigenwert begründe: »Die Erkenntnisleistung der narrativen Vergegenwärtigung ist propositional nicht einholbar.«

Der Abendvortrag bot mit dieser systematischen Betrachtung des Bereichs des Fiktionalen eine fruchtbare Grundlage für die folgenden Diskussionen und insbesondere für die Ausdifferenzierung des Verhältnisses zwischen ästhetischer Präsentation und Präsenz.

Präsenz und Zeit

Gerade die performative Dimension poetischer Sprache erwies sich im folgenden Vortrag als geeigneter Ausgangspunkt, diese Relation beschreibbar zu machen. Dorothee Gelhard (Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Regensburg) untersuchte in ihrem Vortrag »Singbarer Rest - Celans phänomenologische Poetologie« den Bezug zwischen Literatur und Phänomenologie und insbesondere zwischen Präsenzerleben und Zeit. Zwei Aspekte zeigten sich für die Analyse dieser Beziehung als besonders relevant: Erstens sei Celans Verständnis poetischer Sprache als ein performatives zu betrachten, dem es gerade nicht um ein Spiel mit Tropen, sondern um Wirklichkeitskonstitution ginge. Die theoretische Grundlage dieses performativen Potentials lyrischer Bildsprache sei in Celans Beeinflussung durch Husserls Phänomenologie zu suchen und damit zweitens in einem Perspektivwechsel: So erlaube die systematische Kopplung von Wahrnehmung und Erinnerung – in Abgrenzung zur (aristotelischen) qualitativen Differenzierung von »Echtbild und Simulacrum« – deren temporal begründete Unterscheidung im Sinne eines ›Erlebens‹ und ›Nacherlebens‹. Für ihre Analyse der Poesie Celans griff die Argumentation daher auf Husserls dreifache Ausdifferenzierung des präsentischen Zeitbewusstseins (des Zeithofs) in Urimpression, Retention und Protention zurück. Was in der Wahrnehmung als eine solche Abfolge erlebt werde, behalte diese auch in der Erinnerung bei: Die präsentischen »Jetzt-Momente« des Bewusstseinsflusses zeichneten sich in dieser Konzeption also gerade durch ihr Verhältnis zum schon gewesenen und noch kommenden aus. Beispielsweise zeichne u.a. das Gedicht Schwimmhäute zwischen den Worten (1967) ein »phänomenales Bild«, das die Husserl’sche Terminologie explizit aufgreife.

Die Illustration der literaturtheoretischen Grundierung von Celans Wirken verdeutlichte dementsprechend nicht nur, wie Poesie in phänomenologischen Kategorien fassbar werden kann und der Transfer zwischen Literatur und Philosophie bereits produktionsästhetisch Relevanz erhält, sondern insbesondere, wie das Verhältnis von Präsenzerleben und Zeit literaturtheoretisch formuliert und für die Debatte um Präsenz fruchtbar gemacht werden kann. Im Hinblick auf die poetologische Funktion standen daher in der Diskussion die grundsätzliche semantische Relevanz der Gleichzeitigkeit von Form und Inhalt und deren spezifische Bedeutung für den Präsenzbegriff im Vordergrund. Der Untersuchungsgegenstand machte zudem auf eindringliche Weise zwei Charakterzüge des Präsenzbegriffs vor einer bisher eher implizit thematisierten kulturellen Folie deutlich: Einerseits sei Präsenz immer schon im Bereich des Liminalen zu verorten, an kulturellen, physischen oder semantischen Grenzen ebenso wie an Sprach-, Subjekt- oder Raum-Zeit-Grenzen. Daran anschließend verweise das Zusammendenken von Wort und Tat im Hebräischen andererseits auf die bereits erwähnte performative Dimension des Begriffs.

Präsenz und Existenz

Catrin Misselhorn (Philosophie, Berlin) band die bisherige Argumentationsführung zurück an das Subjekt und beleuchtete aus philosophischer Perspektive »Das Gefühl der Präsenz in der Imagination«. Ausgehend von der Beobachtung der Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit in der Lektüreerfahrung, verbunden mit der Annahme einer präsenzanzeigenden Komponente affektiver Qualitäten, untersuchte der Vortrag die Relation zwischen Präsenz und Existenz in ihrer Beziehung zur Spannung zwischen Wahrnehmung und Imagination. Zu unterscheiden seien in dieser Hinsicht zwei verschiedene Formen des Sehens: Während bewegungsleitendes Sehen Gegenstände relativ zum Wahrnehmenden lokalisiere und damit ein Gefühl der Existenz erzeuge, rufe das deskriptive Sehen als Erfahrungsimagination ein Gefühl der Präsenz hervor. Bedingung für letzteres sei demnach zwar nicht die Anwesenheit eines Gegenstandes, wohl aber die begründete Annahme seiner Existenz. Ein Gefühl der Existenz schließe das Gefühl der Präsenz also immer mit ein, während das Gefühl der Präsenz auch ohne ein Gefühl der Existenz gegeben sein könne.

Die Diskussion konzentrierte sich auf drei zentrale Problemfelder: Erstens sei zu fragen, inwiefern beide Formen des Sehens als strukturell verschieden zu betrachten sind, verortete der Beitrag doch das mit dem deskriptiven Sehen verbundene Präsenzgefühl in einem zeitlich strukturierten Gefüge, das mit dem bewegungsleitenden Sehen verursachte Existenzgefühl hingegen in einem räumlich strukturierten Gefüge. Daraus ergäbe sich weiterhin die Frage, ob und in welcher Weise als Folge einer solch kategorialen Verschiedenheit beide überhaupt noch miteinander in Beziehung zu setzen seien. Schließlich bleibe noch das ästhetische Problem, nämlich inwiefern die qualitative Unterscheidung von Gefühlen der Präsenz und Gefühlen der Existenz für künstlerische Realitäten aufrecht zu erhalten sei und ob und wie Kunst und Literatur nicht doch in der Lage seien, Gefühle der Existenz zu evozieren. Zudem bestünde hier auch die Notwendigkeit einer medialen Ausdifferenzierung, u.a. zwischen Künsten, die mit visuellen und solchen, die mit nicht visuellen Präsentationstechniken arbeiten.

Präsenz und Gefühl

Sowohl die mediale als auch die emotive Ebene spielten auch für die textnahen Analysen des folgenden Vortrags eine wichtige Rolle. Ausgehend von der Opposition einer in erster Linie auf Sachverhalte rekurrierenden Sprache und einer auf Gefühlen basierenden Literatur zeigte Erik Martin (Slavistik, Tübingen) in seiner Untersuchung von »Präsenz und Repräsentation bei Tolstoj« die Überwindung von Repräsentation durch Präsenz sowie die Verbindungslinien zwischen Tolstojs Theorie der Ansteckung und seinem literarischen Werk auf. Im Anschluss an die im theoretischen Referenztext Tolstojs, Was ist Kunst? (čto takoe iskusstvo?, 1898), entwickelten Thesen komme Präsenz in der Kunst eine vierfache Bedeutung zu: als Vergegenwärtigung der Gefühle des Künstlers im Rezipienten, als Anwesenheit der transferierten Gefühle im Kunstwerk, als Da-Sein, in dem die Dichotomie von Subjekt und Objekt im Kunstwerk aufgehoben werde sowie als dezidierte Handlungsdisposition. Präsenz erhalte hier das Privileg einer Verabsolutierung, insofern Kunst immer schon als Präsenz und Präsenz in der Kunst als absolute Anwesenheit lesbar seien. Das zentrale Unterscheidungskriterium zwischen Kunst und Nicht-Kunst stelle dabei eben jene Vermittlung von Gefühlen dar. Die entwickelten theoretischen Überlegungen ließen sich anhand der Analyse des in Krieg und Frieden (Woina i mir, 1868/69) geschilderten Opernbesuchs konkretisieren. Die Oper sei dabei insbesondere als eine Form der Kunst der Präsenz interessant, in der die Anschlussmomente vom Kunstwerk zum Rezipienten selbst thematisiert werden.

Im Fokus der Diskussion stand vor allem die theoretische Spannbreite und Tradition zweier Aspekte: Sie fragte einerseits nach der Relevanz des Emotivismus für den Präsenzbegriff, insbesondere im Lichte eines künstlerischen Bestrebens der (sprachlichen) Vermittlung von Gefühlen. Darüber hinaus wurde dem Tolstoi’schen Erzähler, der so tut, als gäbe es in der Oper keine Repräsentationsprozesse, Foucaults Konzept der Heterotopie entgegengehalten, das von grundsätzlich anderen (medialen) Verweisstrukturen ausgehe.

Präsenz und Medialität

Die Beziehung von Medialität und Präsenz sowie die Relation von Präsenz und Präsentation standen auch in Christoph Gardians (Germanistik, Zürich) Vortrag »Mediale Präsenz und visionäre Poetik. Robert Müllers Sprachvisionen« im Vordergrund. Als Textbeispiele dienten Tolstojs Tod des Ivan Il'ič und, als Zentrum der Textanalyse, Müllers Tropen (1915). Die Auswahl war kein Zufall: Müller setzte sich intensiv mit Tolstoj und Dostoevskij auseinander und sprach vor allem letzterem das Vermögen eines Synthetisierung von Stoff und Form ab. Diesem Desiderat (dessen Evidenz an anderer Stelle zu diskutieren wäre) wolle Müller mit seinem eigenen Literaturverständnis, einer »Anthropologie der Einbildungskraft«, Abhilfe verschaffen; seine Poetik und deren spezifische Arten und Weisen, mit Präsenz umzugehen, beleuchtete der Beitrag. Drei Strategien der Präsenzerzeugung ließen sich besonders hervorzuheben: Erstens arbeite der Text dezidiert mit einer Poetik des Visionären, die es erlaube, die Besonderheiten expressionistischen Sehens zu erschließen. Zweitens legten Verfahren der Paradoxierung wie das Nebeneinander von Simultaneitätseffekten und narrativem Sukzessionsbestreben die Strukturen von Text und Wahrnehmung offen und seien gleichzeitig Ausdruck eines großen Synthesebestrebens Müllers. Diese Verfahren könnten, drittens, nicht ohne das ständige Setzen, Erkennen und Überwinden von (medialen) Grenzen stattfinden – liminalen Zuständen und Diskontinuitäten, die selbst wieder Präsenzeffekte erzeugen, beispielsweise durch narrative Strategien der Überblendung oder Rahmung.

Die Diskussion thematisierte aus literaturgeschichtlichem Blickwinkel die spezielle Bedeutung von Präsenz im deutschen Expressionismus im Allgemeinen und die Bezüge zwischen Müller, Musil und Döblin im Besonderen. Terminologisch schien zudem eine Differenzierung zwischen ›Präsenz‹ und ›Präsenzeffekten‹ angebracht: So könne das Thematisieren von Präsenz auf der Ebene der Sprache zwar scheitern und Brüche erzeugen, die aber wiederum die Sprache in den Vordergrund rückten und auf diese Weise Präsenzeffekte entstehen ließen. Gerade die Oszillation böte sich somit als Verfahren zur Erzeugung von Präsenzeffekten an. Allerdings stellte sich damit auch die Frage, ob eine solch generalisierende Unterscheidung nicht die Gefahr einer binären Zuordnung von Präsenzeffekten zu formalen Entautomatisierungsstrategien und ›richtiger‹ Präsenz zu inhaltlichen Kategorien berge. Methodisch erwies sich schließlich noch die Relation von Wort und Bild und ihre Rolle für den Präsenzbegriff als fruchtbar und zog die Frage nach sich, inwiefern intermediale Bezugnahmen eine besondere Form der Präsenz zu erzeugen und zu reflektieren in der Lage seien.

Präsenz und Differenz

Auf eine verstärkt literaturtheoretische Annäherung hob der Vortrag Maja Sobolevas (Philosophie, Marburg) ab mit der Untersuchung von »Distanz statt Einfühlung. Strategien der Vermittlung des Unmittelbaren bei Bachtin«, wobei der Akzent auf dessen Frühwerk gelegt wurde. Hier sei das künstlerische Werk nicht als Objekt, sondern als Ereignis zu deuten. Ausgehend von der Autobiographie sei im Prozess des aktiven Schaffens eines ästhetischen Ganzen die eigentliche ästhetische Tätigkeit zu sehen. Der Fokus verschöbe sich vom tendenziell passiven Erleben auf das Reproduzieren des eigenen Ich, das die menschliche Seele als architektonisches Ganzes setze. Für die Argumentation waren zwei Begriffe relevant: Einmal werde das ästhetische Bewusstsein als Bewusstsein eines Bewusstseins verstanden, das die Aktivität des Subjekts in Bezug auf das andere Bewusstsein setzt. Damit sei zum zweiten die Transgredienz, die Differenz von Ich und Anderem, die prinzipielle Voraussetzung ästhetischen Schaffens. Im Fokus stand so die prinzipielle Unterschiedenheit subjektiver Wertkoordinaten, Differenz statt Identität. Dies komme in einer Phänomenologie des Selbsterlebens und des Erlebens des Anderen zum Ausdruck, die sich in einer Außerhalbbefindlichkeit äußere, innerhalb derer der Autor gerade auf die Distanz zu seinem Helden angewiesen sei, um diesen ästhetisch darstellen zu können. Zwei Funktionen seien dem Text damit eigen: die realistische immanente Darstellung des Helden – hier drücke sich dieser mithilfe und im Medium des Autors aus –, und die formale lebenstranszendente Darstellung des Autors. Somit wird Ästhetik zu einer Kultur der Grenzen und das Liminale findet erneut Anbindung an den Präsenzbegriff.

Auf die Frage, welche Rolle die Präsenz in diesem methodologischen Versuch einnähme, ließe sich somit antworten, dass die Gleichberechtigung von Autor und Held wie auch das Prinzip der Außerhalbbefindlichkeit aufzeigten, wie die Präsenz des Helden als zentraler Aspekt des Kunstwerks evoziert werden könne. Wieder sei Präsenz erst über den Umweg eines scheinbaren Paradoxes möglich: Damit sich das Ich intersubjektiv konstituieren und Präsenz entstehen könne, sei Distanz als Bedingung der Möglichkeit von Reflexion eine notwendiges Konstituens.

Präsenz und Persuasion

Eine andere poetologische Strategie der Präsenzerzeugung untersuchte Temilo van Zantwijk (Wissenschaft- und Kulturphilosophie, Jena) in seinem Vortrag »Persuasiv erzeugte Präsenz in Dostoevskijs ›Die Sanfte‹«, der zur Frage nach dem philosophischen Erkenntnispotential der literarischen Form zurückführte. Präsenz wurde hier in eine systematische Beziehung zur phantastischen Erzählung gestellt. Im Rückgriff auf gattungstheoretische und erzähltheoretische Fragestellungen erweise sich das Konzept der Phantasie als eigentlicher literaturphilosophisch zu reflektierenden Gegenstand dieser Textformen. Terminologisch sei zwischen ›fingierender‹ und ›unwillkürlich erzeugender‹ Phantasie zu differenzieren, wobei nur letztere mit Präsenzerfahrungen in Verbindung zu bringen sei. Ausgehend von den rhetorischen Kategorien der enargeia und der evidentia analysierte der Beitrag eine durch Phantasie persuasiv erzeugte Präsenz in einer monologischen aber polyphonen und unzuverlässigen Form des Erzählens. Überzeugend wurde derart das performative Moment phantastischen Erzählens in Dostoevskijs Monolog und damit der philosophische Mehrwert fiktionaler Rede offenbar, wenn abschließend die intersubjektive Unzugänglichkeit und Inkommensurabilität non-repräsentationaler Phantasie (im Gegensatz zur repräsentationalen Imagination) herausgearbeitet wird: Phantasie kann eben nicht be-schrieben, sondern nur er-schrieben werden.

In der Rückbesinnung auf die bereits in Relation zur Präsenz erörterte Kategorie der Vergegenwärtigung ließ sich an dieser Stelle in der Diskussion eine weitere Differenzierung vornehmen: Der ›klassischen‹ Form der narratio im Sinne einer Vergegenwärtigung sei eine Evidenzrhetorik in persuasiver Absicht, die aber scheitere, im Sinne einer indirekten Vergegenwärtigung gegenüberzustellen. Ergänzend zu den schon diskutierten Thesen wäre damit zu überlegen, ob Präsenz in der Narration nicht per definitionem unmöglich sei, insofern das Jetzt immer schon vergangen sei, und der einzige Weg, sie doch noch einzufangen gerade über Momente der Disparatheit führe. Zudem führte der Beitrag so aus Textperspektive zu der eingangs angesprochenen Frage nach der intersubjektiven Zugänglichkeit und Kommunikabilität von Präsenzerfahrungen zurück.

Präsenz und Imagination

Die Frage nach dem produktiven Potential des Herstellens einer Beziehung zwischen Präsenz als einem qua Vorstellungskraft exklusiv der Imagination vorbehaltenen Phänomen und der literarischen Thematisierung phänomenaler Inhalte stand im Mittelpunkt von Dieter Teicherts (Philosophie, Konstanz) Überlegungen zu »Erzählung und Sinn(es)erfahrung – Marcel Prousts À la recherche du temps perdu«. Es ging also um den Zusammenhang zwischen Strategien der Präsenzerzeugung und dem Gehalt von Erleben. Ausgangspunkt der Argumentation war der durch das Gegebensein von Gegenwärtigkeit bestimmte Unterschied zwischen Wahrnehmung und Imagination: Der transitorische Charakter der Wahrnehmung sei dem präsentischen Charakter der Imagination kategorial verschieden. Die Analyse eines Romans, der Erfahrung als Zeiterfahrung konzipiere, illustriere eindringlich die Spannung zwischen beiden: Selbst Kunstwerk schaffe der Text Präsenz in der Imagination, zeige auf, wie das Erzählen sinninduzierte Erinnerungsprozesse nicht nur vor der Folie der zeitlichen Differenz, sondern in narrativer Doppelung transformiere und derart zu etwas Außer-Zeitlichem umbilde. Das bekannteste der zahlreichen Beispiele von Erinnerungen an olfaktorische, taktil-kinästhetische, visuelle oder auditive Sinneserfahrungen sei sicherlich die Madeleine-Episode. An ihr zeige sich nicht nur, wie Erinnern zum Wieder-Erinnern werde, in dem der Sinneseindruck zum Zeichen werde, das es zu dechiffrieren und in neue Zusammenhänge zu stellen gelte, sondern auch, dass Lektüre Re-Lektüre einschließe. Die selbst immer transformierende Vorführung von Verwandlung in der Kunst wird zur Präsenz erzeugenden Verführung von Imagination.

Wichtigster Aspekt für die Diskussion war die Beobachtung, dass vor diesem Hintergrund Präsenz in der alltäglichen Erfahrung gerade nicht verfügbar sei, sondern in der Überwindung der alltäglichen Wirklichkeit gefunden werden müsse. Damit scheint die kategoriale Differenz zwischen Wahrnehmung und Imagination weitreichende Konsequenzen für den Bezug zwischen künstlerischem Werk, Subjekt und Welt zu haben: Die Anschlussmomente zwischen beiden würden aufs Spiel gesetzt und das präsenzerzeugende Moment der wahrnehmungsgebundenen Erfahrung ganz aufgegeben. Zudem war im Vergleich zu den narrativen Strategien der schon diskutierten (russischen) Autoren eine deutliche Parallele in der systematischen Betonung gerade einer solch höheren Präsenzstufe zu beobachten: Die Bedeutung unmittelbaren Erlebens werde hier wie dort nachrangig gegenüber einer Präsenz des im Kunstwerk gegebenen Erlebens des Augenblicks in einem »auf Dauer gestellten« Augenblick. Ein Kompromiss wäre sicherlich in einer Differenzierung verschiedener – äußerer und innerer – Formen der Wahrnehmung sowie unterschiedlichen Formen von Präsenz, beispielsweise einer Präsenz erster Stufe und zweiter Stufe, zu suchen.

Präsenz und Autorschaft

Der Vortrag »Das Fleisch des (Un)Sichtbaren. Der Autor als Voyeur bei Leonov, Oleša und Nabokov« von Nadežda Grigor’eva (Slavistik, Tübingen) führte nicht nur zum Zusammenhang zwischen dem Präsenzbegriff und dem Sehen als phänomenologischer und literaturwissenschaftlicher Kategorie zurück, sondern setzte sie gleichermaßen in Relation zur Frage nach literarischer Autorschaft. Diese problematisierten die drei metafiktionalen Texte Der Dieb von Leonov (Vor, 1926-28), Neid von Oleša (Zavist', 1927) und Der Späher von Nabokov (Sogljadataj, 1930). Der Beitrag knüpfte an verschiedenen kulturtheoretische Konzeptionen des Sehens an, worunter die Bachtin’sche Außerhalbbefindlichkeit besonders hervorzuheben sei als der systematische Ort, von dem aus der seinen Sehensüberschuss überwindende Autor als Beobachter seines Helden fungiere. In der Analyse stand die Beziehung zwischen dem Sehen und den narrativen Konstellationen im metafiktionalen Text im Vordergrund: In Relation zur Präsenz fand sie verschiedene Ausprägungen u.a. in einem Mangel an Präsenz über die Quasi-Abwesenheit der Realität bis zur Präsenz in Absenz.

Drei für den Diskussionszusammenhang theoretisch fruchtbare Zugänge zum Thema des Workshops ließen sich im Anschluss an den Beitrag ausmachen: Erstens ließe sich aus philosophischer Sicht Präsenz als ein In-der-Welt-Sein im Sinne Heideggers deuten. Zweitens sei aus textimmanenter Perspektive die analytische Relevanz der Dialektik des Blicks und daran anknüpfender Verfremdungseffekte zu betonen. Gegenüber einer Präsenz der und durch Erfahrung sei die Bestätigung der Präsenz des Subjektes durch den Blick des Anderen qualitativ verschieden, insofern der Fokus weder auf das Ich noch auf die Grenze zum Anderen, sondern auf den Anderen selbst gerichtet sei. Vergleichbares ließe sich für die Beziehung zwischen Autor und Held beobachten: Der reziproke Blick bewirke die Bestätigung des Autors durch den Blick des Helden. Drittens wäre aus einem intermedialen Blickwinkel nach der Bedeutung des Blicks und des Konzepts des Neuen Sehens für die Literatur zu fragen: Kommt darin die Hilflosigkeit einer Kunst, die im Medium der Sprache operiert, gegenüber jenen Künsten zum Ausdruck, deren Medium das Bild ist? Oder geht es mehr um das Austesten und Überschreiten medialer Grenzen? Oder steht im Mittelpunkt der Versuch, Präsenz zu erzeugen und die Gleichzeitigkeit des Aufeinmalsehens der bildenden Künste für die Literatur fruchtbar zu machen: etwa indem narrative Strategien zur Überwindung der sprachlich bedingten zeitlichen Struktur entwickelt werden?

Präsenz als Utopie

Eine Frage, die auch verhandelt wird, wenn der Text sich eine Bühne sucht – eine Dimension, die Schamma Schahadat (Slavistik, Tübingen) ausgehend von der bei Nietzsche formulierten semantischen Nähe zwischen dem Dionysischen und dem Unmittelbaren in ihrem Vortrag »Theater und Präsenz: Der leidende Gott« in den Blick nahm. Vor dem Hintergrund von Gumbrechts Unterscheidung von Sinnkulturen und Präsenzkulturen habe Präsenz die Seiten gewechselt: An die Stelle eines alltagssprachlichen Verständnisses von Präsenz als Kontrapunkt des Utopischen trete ein Präsenzbegriff, in dem sich eine »Utopie der Zeichenlosigkeit« manifestiere. Im Rekurs auf die Tragödientheorie des russischen Symbolisten Ivanov und seine nie aufgeführte Tragödie Tantalos (Tantal, 1905) skizzierte der Beitrag das Vermögen der Kunst, Auswege aus der Sinnkultur zurück zur Präsenzkultur aufzuzeigen. So sei das Kunstwerk im Allgemeinen, die Tragödie durch die Überwindung der Distanz zum Rezipienten jedoch im Besonderen geeignet, Präsenz zu erzeugen und dies wiederum als Resultat eines paradoxen Beziehungsgeflechts: sei doch das theatralische Zeichen zugleich Ding und Zeichen, soma und sem,. Im Moment der Katharsis nun werde der Zeichencharakter suspendiert, die Kunst sei nur noch Ding. Von eben diesem Verweischarakter habe Ivanov die Kunst befreien wollen, in der analysierten Tragödie über die Inszenierung einer »Präsenz im Präsens«.

So erwies sich für die Diskussion insbesondere der Umstand als interessant, dass die untersuchte Tragödie Präsenz nicht etwa performativ in der Inszenierung, sondern über die Sprache zu realisieren suchte. Trotzdem oder gerade deshalb fragte sie im Folgenden nach der Reaktualisierung des Rituals im Rahmen einer solchen Konzeption des theatralen Texts: Auch diese sei nicht nur auf Aufführungsebene, sondern über Strategien der Formalisierung bereits auf sprachlicher Ebene zu beobachten und gerade auch in der gegenwärtigen Theaterdiskussion von großem Interesse.

Präsenz in Absenz

Abschließend potenzierte Rainer Grübels (Slavistik, Oldenburg) außerplanmäßig in absentia verlesener Vortrag »Praesentia in absentia. Die Emergenz der Zeichen von Tod und Geburt in Natur, Philosophie, Religion und Literatur« nicht nur performativ den eigenen Untersuchungsgegenstand, sondern verlieh dem Workshop einen der Diversität der Thematik Rechnung tragenden, angemessenen und offenen Schluss. In vier Schritten beleuchtete der Beitrag die Präsenz und Absenz in Natur und Kultur, Absenz als Unterscheidungsmerkmal von Mensch(-sein) und Gott(-sein), Präsenz in Absenz und schließlich die Präsenz der Performanz im Drama.

Abschlussdiskussion und Fazit

Anspruch des Workshops war es, das Phänomen ›Präsenz‹ in Verbindung mit ›Strategien des Transfers in Literatur und Philosophie‹ zu untersuchen und dabei insbesondere phänomenologische und poetologische Fragestellungen zu verknüpfen – ein Vorhaben, das rückblickend durchaus als eingelöst betrachtet werden kann. Die Abschlussdiskussion versuchte sich resümierend und mit Blick auf die Anschlussfähigkeit der Diskussion für folgende Workshops an einer systematisierenden Eingrenzung eines Präsenzbegriffs, der sich bislang vornehmlich durch Komplexität und Ambiguität auszeichnete.

Zusammenfassend konstituierten zwei Problemfelder die Koordinaten für die Ausdifferenzierung der Phänomene, die aus literaturwissenschaftlicher und philosophischer Perspektive unter dem Oberbegriff der Präsenz verhandelt wurden:

So manifestiere sich im Begriff der Präsenz erstens der Versuch der sprachlichen Repräsentation von etwas Außerdiskursivem. Im Sprechen über Präsenz seien wir mit dem Problem der Vermitteltheit des Unmittelbaren konfrontiert, schwingt die Diskrepanz zwischen Signifikat und Signifikant immer schon mit.

Daraus ergeben sich zwei Fragen, eine diskursive und eine ästhetische. Beide setzen an der Beziehung zwischen Vermitteltheit und Unmittelbarkeit an: Wie lässt sich Präsenz überhaupt angemessen reflektieren, wenn wir dafür nur die Sprache zur Verfügung haben? Und: Aufgrund welcher Spezifika ist literarische Sprache möglicherweise trotzdem geeignet, ›Präsenz‹ zu erzeugen?

Zweitens sei die Dichotomie von Natur und Kultur konstitutiv für das Präsenzerleben im Sinne eines sinnlichen Erlebens, insofern dieses immer schon kulturell codiert sei. Das Erleben von Präsenz enthalte demnach Bedeutung, die – prä sensu – umfasse, was außerhalb der Sinneserfahrung stehe.

Hier stellt sich die Frage, wie sich die kulturelle Bedeutungsebene von der phänomenalen differenzieren lässt und in welcher Beziehung beide zueinander stehen.

Diese Fragen sind in verschiedenen Facetten Gegenstand der Diskussionen gewesen, deren Vielseitigkeit jedoch zugleich den Gesprächsbedarf in Zusammenhang mit diesen Problemfeldern hervorhebt. Die Formulierung beider Problemfelder reagierte damit auch auf die in der ersten Diskussion formulierte Forderung einer Ausdifferenzierung qualitativ unterschiedlicher Ebenen von Präsenzerfahrungen, die bereits auf die Spannung zwischen dem unmittelbaren Erleben phänomenalen Bewusstseins und kultureller Präfiguration hinwies.

Erst die scheinbar paradoxe Beziehung beider Spannungsfelder ermögliche nun jedoch die intersubjektive Zugänglichkeit der Präsenz. Drei Geltungsbereiche ließen sich im Anschluss daran für Präsenz differenzieren: Auf synchroner Ebene wären dies erstens die zeitliche wie räumliche Komponente des Jetzt-Erlebens und zweitens der Gehalt des Jetzt-Erlebnisses. Sie beträfen Struktur und Bedeutung einer privaten Erfahrung, die allein dem Subjekt im Erleben selbst zugänglich seien. Erst im dritten Geltungsbereich sei ihre Synthese in einem Reflexionsprozess möglich, der insbesondere von Kunst und Literatur geleistet werden könne. Hier werde Präsenzerleben intersubjektiv teilbar und damit zugleich zu einem an historische und soziokulturelle Prozesse gekoppelten Phänomen, was den dritten vom ersten und zweiten Geltungsbereich kategorial unterscheide.

Die Abgrenzung dieser drei Geltungsbereiche ermöglicht einerseits einen systematischeren Zugang zum Phänomen der Präsenz und andererseits die Differenzierung qualitativ verschiedener Bedeutungs- und Wirkungsebenen von ›Präsenz‹. Die Konkretisierung dieser drei Bereiche – Raum-Zeit-Strukturen, Gehalt und Reflexion des Jetzt-Erlebens – wurde in den Vorträgen und Diskussionen des Workshops geleistet. Damit konnte rückblickend auch dem ebenfalls in der ersten Diskussion bereits eingebrachten Wunsch einer Unterscheidung verschiedener Formen von Präsenz, die phänomenale Unmittelbarkeit und sprachliche Mittelbarkeit in Beziehung setzen, Rechnung getragen werden.

Der Workshop konnte und wollte in der literaturphilosophischen Untersuchung des Phänomens ›Präsenz‹ damit zwar per definitionem keinen Anspruch auf Letztgültigkeit erheben. Dafür jedoch, und darin zeichnet sich der fruchtbare Charakter des Formats aus, konnten die produktiven Vorträge und Diskussionen Präsenz in ihren theoretischen, historischen wie poetologischen Spielfeldern exemplarisch beleuchten. Dies ermöglichte zum einen die umfassende Berücksichtigung eines breiten Spektrums relevanter theoretischer Positionen, die von Husserl über Heidegger bis zu Bachtin und Gumbrecht reichten und von denen hier nur die am breitesten diskutierten genannt werden konnten. So war die Anschlussfähigkeit des Workshops an die einschlägige Theoriebildung zum Thema gegeben. Zum anderen gelang es, die poetologische mit der philosophischen Dimension von Präsenz auf theoretischer Ebene zu verbinden und an Textbeispielen zu konkretisieren. Besonders in diesem Punkt bestand und besteht in der Ästhetikdiskussion Gesprächsbedarf – dies machten insbesondere die Diskussionen zur Beziehung von (Re)Präsentation und Präsenz, (Ver)Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit sowie zur Frage nach Möglichkeiten intersubjektiver Zugänglichkeit über das Medium der Sprache deutlich.

Zwar kann der schriftliche Syntheseversuch der Diskussion selbst sich wiederum nur »abstrakte[r] Worte« bedienen [4] um die Präsenzerfahrung der gedanklichen Dichte eines Workshops, der eben diese zu seinem allerersten Gegenstand gemacht hat, zu fassen. Andererseits eröffnet der Weg über die Sprache aber eben erst die Möglichkeit der Teilhabe am Präsenzerleben.

Der Projektzusammenhang

Der Workshop positionierte sich im übergeordneten Zusammenhang eines seit 2008 von der DFG geförderten und von Tübinger Slavistinnen konzipierten Projekts zur Interaktion von Literatur und Philosophie in der russischen Kultur (Schahadat, Wutsdorff, Grigor’eva). Dessen zentrales Anliegen ist es, die Literarizität philosophischer Werke und den philosophischen Impetus literarischer Texte zu beleuchten. Beide Problemfelder und ihre spezifischen Berührungspunkte bestimmten so nicht nur die Spannbreite dieses Workshops. Sie steckten bereits den Diskussionsrahmen vergangener Arbeitsgespräche an der Schnittstelle beider Disziplinen ab. Insbesondere russischsprachige Texte dienten dabei in der Verhandlung literaturphilosophischer Fragestellungen immer wieder als ergiebiger Untersuchungsgegenstand.

Ulrike Küchler

FU Berlin

Anmerkungen

[1] Die theoriehistorischen Grundlagen diskutiert Gumbrecht ausführlich in Vorbereitung seiner einschlägigen Theoretisierung des Präsenzbegriffes; Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004. [zurück]

[2] Vgl. u.a. André Bucher; Marco Baschera (Hg.), Präsenzerfahrung in Literatur und Kunst: Beiträge zu einem Schlüsselbegriff der ästhetischen und poetologischen Diskussion, Paderborn 2007. [zurück]

[3] Der Vortrag bezieht sich hier auf die Überlegung Gumbrechts, dass »wir das Gefühl haben, zu den Dingen dieser Welt keinen Kontakt mehr zu haben«. Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004, 69. [zurück]

[4] Hugo von Hofmannsthal, Ein Brief, in: H.v.H., Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Bd. 7: Erzählungen, erfundene Gespräche und Briefe, Reisen. Frankfurt a. M. 1979, 465. [zurück]

2011-03-14

JLTonline ISSN 1862-8990

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Ulrike Küchler, An der Schwelle zur Präsenz: Erleben und Erzählen. (Conference Proceedings of: Präsenz und Text. Strategien des Transfers in Literatur(wissenschaft) und Philosophie. Interdisziplinärer Workshop, 06.-08. Mai 2010, Eberhard Karls Universität Tübingen.)

In: JLTonline (14.03.2011)

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