Die Textualität der Kultur

Die Textualität der Kultur. Gegenstände, Methoden und Probleme der kulturwissenschaftlichen Forschung

– Interdisziplinäre Tagung –

Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Professur für Neuere deutsche Literaturwissenschaft (Frau Professor Dr. Andrea Bartl)

29. Juni. bis 1. Juli 2012

CALL FOR PAPERS

Im Zuge des sogenannten ›cultural turn‹, der sich in Deutschland (mit einiger Verzögerung gegenüber den USA) in den 1990er Jahren vollzogen hat, waren die bisher geisteswissenschaftlichen Fächer, die sich plötzlich als Kulturwissenschaften verstehen sollten, tiefgreifenden Veränderungen unterworfen. So sah sich die Literaturwissenschaft mit der Forderung konfrontiert, nicht mehr nur literarische Werke oder Texte des täglichen Gebrauchs in den Mittelpunkt ihres Untersuchungsinteresses zu stellen, sondern, in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit anderen ›kulturwissenschaftlichen‹ Fächern, kulturelle Phänomene aller Art wie Rituale, politische Machtstrukturen oder gesellschaftliche Konstellationen. Dieser gewandelte Anspruch führte nicht nur zu einer ungeheuren Ausweitung des Gegenstandsbereichs literaturwissenschaftlicher Forschung, sondern auch zu einer Krise im Selbstverständnis des Faches, und als einer ihrer exponiertesten Ausdrücke kann die Debatte in den Jahrgängen 41 (1997) bis 43 (1999) des Schiller Jahrbuch angesehen werden. Ausgelöst von Wilfried Barners provokanter Frage: »Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden?« diskutieren Hartmut Böhme, Wilhelm Vosskamp, Renate Schlesier und andere kontrovers und engagiert das Verhältnis von Literatur- und Kulturwissenschaft(en) und die Konsequenzen der ›kulturalistischen Wende‹.

Seit dieser Grundsatzdiskussion ist mehr als ein Jahrzehnt vergangen, und obwohl die Frage, was genau der Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung sei, und wie sie sich im Verhältnis zu ›benachbarten‹ Disziplinen wie Geschichtswissenschaft, Soziologie, Psychologie oder auch den Kognitionswissenschaften positionieren solle, keineswegs abschließend beantwortet ist (und wohl auch nicht endgültig beantwortet werden kann), ist Literaturwissenschaft-als-Kulturwissenschaft zu einer der einflussreichsten Ausrichtungen nicht nur in der Germanistik, sondern ebenso in den übrigen Neuphilologien geworden.

Diese allgemeine Akzeptanz bedeutet jedoch nicht, dass alle Probleme dieses Ansatzes gelöst wären, und eines der hartnäckigsten betrifft das Verhältnis von Literatur und Kultur oder Text und Kontext: Auch und gerade in ihrer kulturwissenschaftlichen Ausrichtung bleibt die Literaturwissenschaft eine Textwissenschaft, insofern sie Texte als kulturelle Artefakte auffasst, sie aus ihren kulturellen Entstehungskontexten heraus zu verstehen sucht oder die Art und Weise analysiert, wie kultureller Konstellationen sich in Texten manifestieren. Und auch bei der Beschäftigung mit Phänomenen wie Diskursformationen, psychischen Dispositionen oder transmedialen Wechselwirkungen, die das Ziel kulturwissenschaftlichen Interesses bilden können, hat es der Interpret zunächst und in erster Linie mit Texten zu tun, denn keiner dieser Forschungsgegenstände ist ihm unmittelbar und unvermittelt zugänglich – oder, um es mit einem Zitat von Michail Bachtin zu sagen: »Where there is no text, there is no object of study, and no object of thought either.« (Bachtin 1986)

Eine Möglichkeit, das Verhältnis von Text und Kontext zu denken, bildet die Vorstellung der Textualität der Kultur, die von Stephen Greenblatt, Louis Montrose und anderen Vertretern des ›New Historicism‹ unter Bezugnahme auf den Kulturbegriff des Ethnologen Clifford Geertz entwickelt wurde. In seinem programmatischen Essay Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture erläutert Geertz: »The concept of culture I espouse […] is essentially a semiotic one. Believing, with Max Weber, that man is an animal suspended in webs of significance he himself has spun, I take culture to be those webs, and the analysis of it to be therefore not an experimental science in search of law but an interpretive one in search of meaning.« (Geertz 1973) Diese Vorstellung von Kultur als einem ›Netzwerk von bedeutungstragenden Verknüpfungen‹, dem ein semiotischer, also ein textueller Charakter eigen ist, eröffnet die Möglichkeit eines bruchlosen Übergangs zwischen einem zu untersuchenden Text und dem ihn umgebenden Kontext – eines Übergangs, der in beide Richtungen funktioniert: Anders als in der traditionellen Einflussforschung wird ein Text nicht mehr nur als das Produkt zeitgenössischer Einflüsse angesehen und in einen bereits existierenden und daher ›statischen‹ historischen Kontext eingeordnet, sondern die Auffassung der Kultur als eines semiotischen Geflechts führt zu einer ›dynamischen‹ Wechselbeziehung zwischen Text und Kontext, der auch seinerseits aus Texten besteht bzw. ›textuelles‹ Gepräge hat. Greenblatt spricht von ›Verhandlungen‹, die zwischen Texten stattfänden, von der Zirkulation der ›sozialen Energie‹ und von ›Resonanz‹, also dem Potential von Texten, auf die sie umgebende Kultur einzuwirken. Zu konstatieren ist damit ein »reziprokes Interesse an der Geschichte von Texten und der Textualität von Geschichte« (Baßler 2001), oder, um auch weiterhin mit dem allgemeineren Kulturbegriff zu arbeiten: Den Kern der hier skizzierten Auffassung von Literaturwissenschaft-als-Kulturwissenschaft bildet die These von der Textualität der Kultur und der Kulturalität von Texten.

Dieser konzeptionelle Chiasmus steht im Mittelpunkt unserer Tagung und soll als Anknüpfungspunkt dienen für eine Vielzahl möglicher (und möglichst vielfältiger) Fragestellungen und Untersuchungen. Erwünscht sind sowohl (1) Untersuchungen zu einzelnen Werken und ihrer Verflechtung in historische Diskurskonstellationen als auch (2) theoretische bzw. methodologische Überlegungen zum cultural turn, zur Textualität von Kultur oder zur Text-Kontext-Problematik – am besten in interdisziplinärer Perspektive. Die folgenden Stichworte und Problemstellungen sind dabei ausdrücklich als Denkanstöße und in keiner Weise als Beschränkungen zu verstehen:

  • Handelt es sich beim cultural turn um einen wissenschaftlichen Paradigmenwechsel oder um ein Oberflächenphänomen? Wie sind die Folgen dieses ›Wandels‹ für das Selbstverständnis der verschiedenen betroffenen Disziplinen einzuschätzen?

  • Wie steht es um die Risiken interdisziplinärer Ansätze, gerade hinsichtlich mangelnder Methodensicherheit auf dem ›fremden‹ Gebiet?

  • In der Theoriediskussion der Kulturwissenschaft ist das Konzept der Textualität in den vergangenen Jahren gegenüber Kategorien wie Performanz, Theatralität, Medialität, Ritual oder Erinnerung in den Hintergrund getreten. Zu fragen wäre nach den Gründen für diese Entwicklung, den Vor- und Nachteilen der verschiedenen Konzepte sowie ihren unterschiedlichen Gegenstandsbereichen: So impliziert der Begriff der ›Performanz‹ eine Unmittelbarkeit (der Körpers oder der Stimme), wie sie etwa für Kulturen kennzeichnend ist, in denen nicht das geschriebene, sondern das gesprochene Wort als Leitmedium fungiert.

  • Der Einfluss von poststrukturalistischen Theorien wie der Diskursanalyse, der Dekonstruktion und der Intertextualität auf das Konzept von der ›Textualität der Kultur‹ ist offensichtlich, doch worin unterscheiden sich die verschiedenen Ansätze, und welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

  • Eine weitere Parallele besteht zu dem von Hayden White entwickelten Konzept der Geschichtsschreibung als Metanarrativ (›Auch Klio dichtet‹) und der damit verbundenen Kritik an historischen ›méta récits‹ (Lyotard): Lässt sich diese Denkfigur auf die ›Kultur als Narrativ‹ übertragen, und was sind die Folgen einer solchen Transposition?

  • Welche Konsequenzen hat das Postulat von der ›Textualität der Kultur‹ für diejenigen kulturwissenschaftlichen Disziplinen, für die Texte (im engeren Sinne) nur ein Gegenstand unter anderen sind, wie etwa für Historiographie, Anthropologie, Ethnologie, Soziologie, Psychologie und Medienwissenschaften?

Neben literaturwissenschaftlichen Beiträgen sind Einsendungen aus anderen kulturwissenschaftlichen Fächern sowie interdisziplinäre Untersuchungen ausdrücklich erwünscht, sowohl zu einzelnen Werken oder kulturellen Phänomenen wie auch zu allgemeinen Problemfeldern – die transdisziplinäre Ausrichtung der Konferenz liegt in der Natur ihres Themas begründet und ist für ihr Gelingen von besonderer Bedeutung.

Die Vorträge sollen eine Länge von 30 Minuten nicht überschreiten; Interessenten werden gebeten, ihr Exposé (max. eine DIN A4-Seite + Kurz-CV) bis zum 10. Mai 2012 per E-Mail an alle vier Veranstalter zu schicken. Die Übernahme der Reisekosten wird angestrebt, kann aber nicht garantiert werden, ebenso ist die Publikation der Beiträge in einem Tagungsband von den finanziellen Mitteln abhängig. Für die Teilnahme an der Konferenz wird ein Unkostenbeitrag von € 2,50 erhoben.

Veranstalter:

Dr. Christian Baier (cbaier1@gmx.net)

Dr. des. Nina Benkert (nina_benkert@web.de)

Janina Dillig M. A. (janina.dillig@uni-bamberg.de)

Dr. des. Hans-Joachim Schott (hajoSschott@web.de)

Postadresse:

Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Professur für Neuere deutsche Literaturwissenschaft (Prof. Dr. Andrea Bartl)

z. Hd. Dr. des. Hans-Joachim Schott

An der Universität 5

96047 Bamberg

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