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Friederike Schruhl

Disziplingeschichte der Germanistik als Beobachtung dritter

Ordnung

Christina Riesenweber, Die Ordnungen der Literaturwissenschaft. Selbstbeschreibungen einer Disziplin 1990–2010. Münster: Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster 2017. 247 S. [Preis: EUR 17,60]. ISBN: 978-3-8405-0150-0.

»Die Literaturwissenschaft gibt es nicht« (1). Christina Riesenweber eröffnet ihre 2017 publizierte Dissertation über die Selbstbeschreibungen der Literaturwissenschaft mit einem Kollektivsingular, der zugleich als programmatisches Diktum fungiert. Ihrer Beobachtung nach verfüge die Literaturwissenschaft über keinen gemeinsamen theoretischen, methodischen oder gegenstandsbezogenen Kern, der die Einheit der Disziplin zufriedenstellend begründen könnte. Die Suggestion eines solchen Zentrums führe, so die Autorin, zu weitreichenden disziplininternen und -externen Missverständnissen. Die von ihr für unzureichend befundenen Konzeptualisierungen der Literaturwissenschaft erschwerten »sachorientierte Dispute ebenso wie eine selbstbewusste Darstellung der Literaturwissenschaft gegenüber Nicht-Fachleuten, also Wissenschaftler/innen anderer Disziplinen und einer nicht-akademischen Öffentlichkeit« (2). Die »unklare Kommunikation« führe dazu, dass die unterschiedlichen Teilbereiche der Disziplin »in keinem geordneten Verhältnis zueinander gedacht werden können« und »Forschungsergebnisse nicht gut miteinander vergleichbar und nur schwer in andere innerfachliche Kontexte zu übertragen« seien (ebd.).

Anhand von unterschiedlichen disziplinären Selbstbeschreibungen möchte die Autorin daher in ihrer Dissertation nicht nur der Frage nachgehen, was innerhalb des Fachs unter ›Literaturwissenschaft‹ verstanden wird, sondern auch das breite konzeptionelle Spektrum der literaturwissenschaftlichen Disziplin und ihre eigenen rhetorischen Ordnungen herausarbeiten. Das Ziel ihrer Arbeit ist es,

aus diesen verschiedenen Konzepten nicht ein zugrundeliegendes Modell der Literaturwissenschaft zu extrahieren, sondern zu prüfen, ob es eine übersichtliche Form der Systematisierung geben kann, die ohne ein monolithisches Zentrum auskommt. (3)

Für ihre Analyse konzentriert sie sich auf die Germanistik in Deutschland zwischen 1990 und 2010 (unter Ausnahme der Teilbereiche Didaktik, Linguistik und Mediävistik) und untersucht drei verschiedene Materialkategorien: (a) Einführungstexte, (b) Lexika und Handbücher sowie (c) diverse Selbstreflexionen in unterschiedlichen literaturwissenschaftlichen Publikationen. Um diesen vielfältigen Darstellungsformen gerecht zu werden und ihre Vergleichbarkeit zu reflektieren, macht die Autorin auf ihre jeweiligen Gebrauchszusammenhänge, ihre spezifischen Adressierungen und die damit verbundenen Reichweiten aufmerksam. Es ist ein Verdienst der Autorin, diese häufig wenig beachteten Texte für die wissenschaftsgeschichtliche Forschung anschlussfähig zu machen und die vielen unterschiedlichen, auffallend heterogenen fachinternen Selbstbeschreibungen über einen Zeitraum von zwanzig Jahren zusammenzutragen und als „Ordnungen der Literaturwissenschaft“ zu rekonstruieren.

Diese »Ordnungen der Literaturwissenschaft«, welche die Autorin in ihrer Arbeit in »Aktivitäts- und Zuständigkeitsbereiche«; »Begriffe der Literaturwissenschaft«; »Programme der Literaturwissenschaft«; »Ziele der Literaturwissenschaft« und »Kontexte der Literaturwissenschaft« gliedert, führen die komplexe heterarchische Struktur und multikonstellative Anlage der Literaturwissenschaft eindrücklich vor Augen. Keine der von ihr erfassten Oberkategorien ist für sich genommen in einer Weise disziplinär regulierend und verbindlich, dass sie das Fach zusammenhalten könnte. Die Autorin resümiert daher, dass in den untersuchten Selbstbeschreibungen keine »Aufteilung des Faches in größere Arbeitsgebiete festgestellt werden [konnte], die als konsensuell oder selbstverständlich angesehen wird« (219), dass »die ungeklärten Ansprüche an wissenschaftliche Begriffe und die inkonsistenten Begriffsverwendungen« (224) einem integralen Ordnungsschema der Literaturwissenschaft entgegen stehen und dass der Umgang mit Theorien und Methoden »kaum in den literaturwissenschaftlichen Selbstbeschreibungen« (225) seinen Niederschlag finde. Außerdem zeichneten sich die untersuchten Texte durch »die Abwesenheit konkreter Zielformulierungen« (226) aus.

Eine Pointe der Arbeit, welche die Autorin jedoch nicht ausarbeitet, könnte darin liegen, dass theoretische Überzeugungen oder programmatische Anweisungen nicht alleine für die Kohäsion der Disziplin sorgen können und weitaus geringeren Einfluss auf den Zusammenhalt des Fachs haben, als weitläufig angenommen. Der Befund der Autorin, dass die Literaturwissenschaft über kein einheitliches Zentrum verfüge, müsste in diesem Fall präzisiert werden. Auf den untersuchten Ebenen ist kein gemeinsamer Kern auszumachen. Allerdings ist hiermit noch nicht gesagt, dass es der Literaturwissenschaft an einem verbindlichen Grundgerüst fehle. Dieses ist nur nicht in einheitlichen Theorie-, Methoden- oder Programmbildungen zu lokalisieren, wie die Dissertation anhand vieler Belege eindrücklich nachweist. Die Ergebnisse der Untersuchung sind bedeutsam und folgenreich, müssen jedoch nicht zwangsläufig als Indizien für einen krisenhaften Zustand ausgelegt werden. Sie zeichnen das »Bild einer facettenreichen Disziplin, die von inneren Widersprüchen und Inkonsistenzen geprägt ist, gleichzeitig aber auch eine große Dynamik und Flexibilität aufweist« (219).

Es ist zu bedauern, dass die Studie an dieser Stelle keine weiteren Anschlussfragen aufwirft. Interessant wäre es etwa zu bedenken, was überhaupt für Robustheit und Resilienz der Literaturwissenschaft sorgt und eine gewisse Solidität gegenüber anderen Disziplinen garantiert, wenn, wie die Autorin ausführlich darlegt, das Spektrum von theoretischen, begrifflichen oder programmatischen Angeboten derart disparat verfasst ist. Hierzu müsste man in Rechnung stellen, dass die untersuchten Texttypen Einführungen, Handbücher und Lexika in der Regel von sehr erfahrenen Literaturwissenschaftlern geschrieben werden – was zumindest nahelegt, dass die von der Autorin geforderte systematische Repräsentation der Literaturwissenschaft nicht an der Qualität der disziplinären Rekonstruktionen scheitert. Zudem gilt es in Erinnerung zu halten, dass, selbst wenn die von der Autorin bemängelte »unreflektierte Verwendung« (143) von Begriffen verbessert und die definitorischen Probleme (in welcher Form auch immer) konsequent aufgelöst würden, keine wohlgeordnete Einheit oder konsistente Systematik der Literaturwissenschaft entstünde. Die von ihr vorgeschlagenen Ordnungen können hierbei durchaus Orientierungsfunktionen erfüllen. So lassen sich etwa, wie die Autorin ausführt, deskriptive und nicht-deskriptive bzw. themenorientierte und nicht-themenorientierte Schwerpunktsetzungen innerhalb der literaturwissenschaftlichen Programme unterscheiden oder Tätigkeitsbereiche als nomothetisch, idiographisch bzw. textorientiert und nicht-textorientiert beschreiben. Allerdings bleibt offen, ob derlei Kategorien die adressierten Leistungserwartungen und -versprechen überhaupt erfüllen könnten.

So unterstützt die Autorin mit ihren anschlussfähigen Problematisierungen und interessanten Fragestellungen eine Perspektive, welche die notorischen Krisendiskurse des Fachs relativieren könnte. An den Selbstbeschreibungen ließe sich ablesen, wie über zwanzig Jahre mit dem Vorwurf des Pluralismus umgegangen wurde, welche Tätigkeitsbereiche ins Zentrum literaturwissenschaftlichen Forschens gerückt sind und welche Normenkonstellationen sich als äußerst stabil erwiesen haben. Um die Konturen der literaturwissenschaftlichen Disziplin zu profilieren, läge es daher nahe, den Blick auf die Praxisformen, ihre kollektiv geteilten Umgangsweisen und gemeinsamen Verfahrensroutinen mit Theorien, Methoden, Gegenständen etc. zu richten. Vielleicht könnten solche Fragerichtungen den Fokus auf die Ordnungen der Literaturwissenschaft ergänzen und so der komplexen Verfasstheit der Disziplin ein Stück näherkommen. Christina Riesenweber hat mit ihrer bemerkenswerten Arbeit auf aktuelle Herausforderungen der Wissenschaftsforschungen aufmerksam gemacht, an die weitere Reflexionen über die Literaturwissenschaft in Zukunft anschließen werden.

2018-03-04

JLTonline ISSN 1862-8990

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Friederike Schruhl, Disziplingeschichte der Germanistik als Beobachtung dritter Ordnung. (Review of: Christina Riesenweber, Die Ordnungen der Literaturwissenschaft. Selbstbeschreibungen einer Disziplin 1990–2010. Münster, Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster 2017.)

In: JLTonline (04.03.2018)

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