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Christiana Werner

Fiktion und Emotion

Eine Rezension von Adrian Wettsteins Fiktive Geschichten –

Echte Emotionen

Adrian Wettstein, Fiktive Geschichten – Echte Emotionen. Der Einfluss von Romanen auf das Gefühlsleben. Münster: Mentis 2015. 207 S. [Preis: Euro 32,00]. ISBN: 978-3957430328.

Adrian Wettstein hat es sich zur Aufgabe gemacht, emotionale Reaktionen auf fiktionale Literatur zu untersuchen – ein Thema, das eine lange Tradition hat, gleichermaßen seit einigen wenigen Jahren geradezu eine Renaissance erlebt und das nicht nur in der Philosophie, sondern insbesondere in den Literaturwissenschaften, der Psychologie und den Neurowissenschaften. Adrian Wettsteins zentrale Fragen lauten: (1) Sind unsere emotionalen Reaktionen auf fiktionale Literatur normale Gefühle oder unterscheiden sie sich in relevanter Hinsicht von diesen? (2) Sind diese Gefühle rational? Und schließlich, (3) welchen positiven oder negativen Beitrag kann die Rezeption fiktionaler Literatur zu dem leisten, was der Autor Gefühlskultivierung nennt? Große Fragen, die Adrian Wettstein in fünf Schritten beantwortet.

Die ersten beiden Kapitel widmen sich der vorbereitenden Begriffsklärung. Zunächst klärt der Autor im ersten Kapitel, was er unter dem Ausdruck ›Gefühl‹, den er gleichbedeutend mit ›Emotion‹ verwendet, verstanden wissen will und argumentiert an dieser Stelle für eine narrative Gefühlstheorie. Im zweiten Kapitel wird untersucht, wie sowohl die Produktion als auch die Rezeption fiktionaler Literatur angemessen beschrieben werden kann. Wettstein orientiert sich im Wesentlichen an Gottfried Gabriel, wenn er argumentiert, dass Autoren fiktionaler Texte zwar hauptsächlich behauptungsförmige Sätze äußern, tatsächlich aber nicht behaupten, da mit den Äußerungen weder auf etwas in der Welt Bezug genommen, noch ein Anspruch auf Wahrheit erhoben wird. Leser imaginieren den Gehalt der Literatur. Dabei wird Imagination als eine mentale Aktivität verstanden, bei der Gedankeninhalte vergegenwärtigt, aber nicht für wahr gehalten werden. Auf dieser Grundlage widmet sich Adrian Wettstein im dritten Kapitel seiner Arbeit den ersten beiden oben genannten Fragen. Nachdem die Debatte um das so genannte ›Paradox der Fiktion‹ umrissen wird, argumentiert der Autor für die These, dass Gefühle, die auf Fiktives gerichtet sind, sich zwar in vielen Merkmalen von Gefühlen, die auf Nicht-Fiktives gerichtet sind, unterscheiden. Sie können aber mit der von ihm favorisierten narrativen Gefühlstheorie angemessen als so genannte ›epistemische Gefühle‹ beschrieben werden und zwingen daher zu keiner Revision der Theorie. Darüber hinaus wird auch die These, es handele sich bei diesen Gefühlen grundsätzlich um irrationale Gefühle, zurückgewiesen. Schließlich zeigt der Autor auf, dass die Rezeption fiktionaler Kitschliteratur das Risiko birgt, sich negativ auf die Kultivierung der emotionalen Kapazitäten der Leser auszuwirken, während die Lektüre anspruchsvollerer Literatur sich positiv auswirken kann.

Im ersten Kapitel, das die Grundlagen einer philosophischen Gefühlstheorie erarbeiten soll, formuliert Adrian Wettstein, sehr überzeugend, seine Forderung an eine philosophische Theorie der Emotionen: methodische Reinheit, Kohärenz und Nähe zu vortheoretisch verbreiteten Auffassungen über den Gegenstand. Gefühle unterscheidet er, wie es unter vielen Autoren üblich ist, von Stimmungen und bloßen leiblichen Empfindungen. Gemäß der so genannten ›Komponententheorie der Gefühle‹ lassen sich eine kognitiv-evaluative, eine Empfindungs- und eine Motivations- bzw. Ausdruckskomponente bei Gefühlen unterscheiden. Der Autor stimmt mit Vertretern dieser Theorien darin überein, dass Gefühle diese Komponenten aufweisen. Er kritisiert aber, dass es jenen Theorien nicht gelingt, den folgenden Umstand zu erklären: Warum werden diese Komponenten, die zum Teil nicht gleichzeitig auftreten, sondern nacheinander, zu einer Einheit, nämlich dem Gefühl, zusammengefasst? Nach Auffassung des Autors gelingt dies der narrativen Theorie der Gefühle. Auch gemäß dieser Theorie lassen sich an Gefühlen Komponenten ausmachen. Insofern handelt es sich dabei also auch um eine Komponententheorie. Die Komponenten werden aber als ein narrativer Komplex verstanden, was heißen soll, dass es eine thematische und auch chronologische Verknüpfung der Komponenten geben soll. Diese Verknüpfung oder Narrativität, so die These, ist ein Merkmal der Gefühle. Diese interessante ontologische These hätte etwas mehr Aufmerksamkeit verdient als ihr im Folgenden zukommt, denn selbsterklärend ist sie sicher nicht. Stattdessen werden Aspekte der Gefühlskomponenten näher beleuchtet. Zunächst widmet sich der Autor der Unterscheidung zwischen Ursache, Objekt und Anlass eines Gefühls, wobei er Anthony Kennys Unterscheidung von Objekt und Ursache folgt. Bei den Objekten der Gefühle unterscheidet er zunächst zwischen formalem und konkretem Objekt. In diesem Zusammenhang kritisiert der Autor völlig zu Recht eine These, derzufolge das konkrete Objekt eines Gefühls nur ein existierendes physikalisches Objekt sein könne. Die Frage, wie aber Intentionalität zu erklären ist, wenn sich ein Gefühl scheinbar auf einen nicht-existierenden Gegenstand richtet, wird vom Autor nicht beantwortet, sondern auf die lange To-do-Liste der Philosophie des Geistes geschrieben. Wettsteins Thema sind aber Gefühle, die sich auf fiktive Figuren richten. Da er eine antirealistische Auffassung bzgl. des ontologischen Status dieser Figuren vertritt, ist er der Meinung, dass sich die besagten Gefühle auf nicht-existierende Figuren beziehen. Auch wenn eine umfassende Theorie des Geistes an dieser Stelle keinesfalls verlangt werden kann, wäre eine etwas ausführlichere Behandlung des Problems der Intentionalität und Nicht-Existenz doch naheliegend gewesen. So muss sich der Leser mit der Feststellung begnügen, dass der Autor die These vertritt, dass Gefühle immer auf ein konkretes Objekt gerichtet sind, auch wenn ein solches Objekt nicht existiert bzw. es keinen entsprechenden physischen Gegenstand gibt.

In Bezug auf das formale Objekt vertritt der Autor die These, es handele sich dabei um einen komplexen Begriff, der es ermöglicht, Gefühle zu individuieren und als ein Vorkommnis eines bestimmten Gefühlstyps zu bestimmen. Aktuellere Überlegungen bzgl. des formalen Objekts von Gefühlen – z.B. von D’Arms und Jacobson[1] – werden leider nicht aufgegriffen, was insbesondere deshalb interessant gewesen wäre, weil diese beiden Autoren versuchen, die Rationalität von Gefühlen mithilfe des formalen Objekts zu bestimmen. Da die Rationalität der auf Fiktion gerichteten Gefühle eine von Adrian Wettsteins Hauptfragen ist, wäre es interessant gewesen, diese Überlegungen auf die Fragestellung zu beziehen. Denn fiktionale Szenarien sind insofern problematisch, als die konkreten – fiktiven – Objekte zumindest auf den ersten Blick nicht mit den Anforderungen des formalen Objekts in Einklang zu bringen sind: So nennt beispielsweise der von Wettstein angeführte William Lyons ›das Gefährliche‹ als Beispiel für das formale Objekt von Angst.[2] Ein konkretes Objekt sollte daher gefährlich sein, wenn das Gefühl, das sich auf jenes konkrete Objekt richtet, Angst ist. Graf Dracula scheint aber für uns nicht gefährlich sein zu können und typische Leser glauben auch nicht, dass der Vampir ihnen gefährlich werden könnte, da er überhaupt nicht existiert. Es wäre lohnenswert gewesen, die Überlegungen bzgl. des formalen Objekts im dritten Kapitel der Arbeit noch einmal aufzugreifen.

In seinem ersten Kapitel erarbeitet der Autor aber nicht nur die emotionstheoretischen Grundlagen seiner Arbeit, er beschäftigt sich auch mit Prozessen des Mit- oder Für-einen-anderen-Fühlens. Plausiblerweise hält Wettstein Empathie nicht für eine spezielle Emotion. Er vertritt eine Position, die in der Nähe aktueller Simulationstheorien anzusiedeln ist, wenn er sagt, dass Empathie »eine lebhafte Vergegenwärtigung von Gedanken und Gefühlen einer anderen Person« (110) ist. In Anlehnung an Max Scheeler nimmt Wettstein an, dass empathisch empfundene Gefühle keine Gefühle im vollen Sinn sind. Diese These wird auch in der aktuellen Empathie-Debatte vereinzelt vertreten, etwa von A. Kauppinen[3] und A. Goldman[4]. Interessanterweise weisen die Argumente für diese These erstaunliche Parallelen zu Argumenten auf, die in der Debatte um das Fiktionsparadox für die Position angeführt werden, dass die Emotionen, die für fiktive Figuren empfunden werden, keine Emotionen im eigentlichen Sinn sind. Zumindest vor dem Hintergrund eines simulationstheoretischen Empathiekonzepts sind diese Ähnlichkeiten im Grunde wenig überraschend, denn es kann angenommen werden, dass in beiden Fällen die Imagination beim Zustandekommen der Gefühle eine große Rolle spielt. Ein weiteres angebliches Unterscheidungskriterium zwischen genuinen und nicht-genuinen Emotionen, das in beiden Debatten häufig angeführt wird, ist die Verbindung zu typischen Handlungen oder Ausdrucksweisen, die im Fall genuiner Emotionen gegeben sei, im Fall nicht-genuiner Emotionen dagegen fehle. Dieses Merkmal hätte besondere Aufmerksamkeit erfahren sollen, da es im letzten Kapitel des Buches noch einmal in einem anderen Zusammenhang, nämlich im Rahmen der Unterscheidung so genannter sentimentaler und nicht-sentimentaler Gefühle, auftaucht. Leider berücksichtigt Wettstein auch bei seiner späteren Diskussion der auf Fiktion bezogenen Gefühle weder die von ihm selbst an dieser Stelle eingenommene Position bzgl. empathischer Gefühle noch andere aktuell vertretene. Das ist insofern bedauerlich, als sich hier eine interessante Spannung herauskristallisiert zwischen seiner Annahme, dass empathisch empfundene Gefühle nicht-genuine Gefühle seien, und der später von ihm vertretenen Position, dass auf Fiktion bezogene Gefühle sehr wohl genuine Gefühle seien.

Das zweite Kapitel seiner Arbeit widmet der Autor der Charakterisierung der Produktion und Rezeption fiktionaler Literatur. Er vertritt die Position, dass Autoren fiktionaler Texte nicht auf die Wahrheit dessen, was sie schreiben, festgelegt werden und es nicht ihr Anspruch ist, etwas Wahres zu sagen. Gemeint ist damit, dass die erzählte Geschichte keinen Sachverhalten in der Welt entspricht, so wie es keine Personen in der Welt gibt, auf die mit den Namen, die in den fiktionalen Texten verwendet werden, Bezug genommen wird. Wettstein stützt sich bei seinen Überlegungen wiederum auf Gottfried Gabriel, der ähnlich wie John Searle in erster Linie fiktionale, narrative Texte mit nicht-fiktionalen, narrativen Texten vergleicht. Die Unterschiede, die dabei zu Tage treten, bilden die Grundlage für die sprechakttheoretische Bestimmung des fiktionalen Erzählens und diese fällt vor allem defizitär gegenüber den Bestimmungen des Behauptens aus. Die Leserin erwartet in einem Buch über Emotionen und Fiktion sicherlich keine ausgefeilte sprechakttheoretische Analyse des fiktionalen Erzählens – und doch wären an einigen Stellen detailliertere Überlegungen wünschenswert gewesen. So beziehen sich die von Wettstein übernommenen Analysen von Gabriel nur auf narrative Texte und Wettsteins am meisten angeführter Beispieltext ist mit Anna Karenina auch narrativ, doch mit Othello, dem Beispiel auf Platz zwei, bezieht er sich auf ein Drama. Ein gewichtigeres Problem ist aber ein anderes: Wettstein spricht im Verlauf seines Buches immer wieder davon, dass fiktionale Texte den Leser auffordern, das Erzählte zu imaginieren (vgl. 71 oder 177f., was auch gut zu seiner Beschreibung der Rezeption passt, aber eben nicht ganz so gut zu der übernommenen Position von Gabriel und Searle. Diesen Autoren zufolge wird gerade kein illokutionärer Akt beim fiktionalen Erzählen vollzogen, Aufforderungen aber sind direktive und somit illokutionäre Akte. Nun muss sich Wettstein damit noch nicht in einen Widerspruch verwickelt haben, aber dieser Eindruck könnte doch entstehen. Eine Auseinandersetzung mit der Position, wie sie z.B. von Gregory Currie[5] vertreten wird, dass fiktionales Erzählen ein direktiver Akt, nämlich eine Aufforderung oder Einladung an den Leser ist, sich das Erzählte vorzustellen, wäre hier sehr hilfreich gewesen.

Adrian Wettsteins Analyse der Rezeption von Fiktion, die im Wesentlichen an Roger Scruton angelehnt ist, wonach die Rezipienten fiktionaler Texte den Gehalt des Erzählten imaginieren, also repräsentieren, ohne diesen aber zu glauben, ist prima facie plausibel und deckt sich sicherlich mit vortheoretischen Intuitionen in dieser Frage. Allerdings merkt der Autor selbst zu Beginn des zweiten Kapitels an, dass es literarische Werke gibt, die nur zum Teil fiktional sind. Dies ist an und für eine strittige These, aber auch Vertreter der Position, dass Werke immer entweder fiktional oder nicht-fiktional sind, bestreiten nicht, dass es in fiktionalen Werken Sätze oder ganze Passagen gibt, die Sachverhalten in der Welt entsprechen, also wahr sind und von Lesern häufig als solche erkannt und auch geglaubt werden. Wie aber verhält sich dieser Umstand zu der von Wettstein vertretenen Position, dass Leser die Gehalte fiktionaler Texte imaginieren, ohne sie für wahr zu halten? Der Autor beschäftigt sich zwar sehr ausführlich mit der Frage, wie durch Interpretation von fiktionalen Werken ein Realitätsbezug hergestellt werden kann, er bleibt eine Antwort auf die Frage aber schuldig, wie vor dem Hintergrund seiner Imaginationstheorie damit umgegangen werden soll, dass Leser einige der erzählten Propositionen eines Werkes auch glauben.

In seinem dritten Kapitel wendet sich der Autor schließlich den zentralen Fragen seiner Arbeit zu. In einem ersten Schritt befasst er sich mit literarischen Ausdrucksmöglichkeiten von Emotionen. Die Beschäftigung damit ist für sein Vorhaben wichtig, da er im vierten Kapitel dafür argumentiert, dass die Lektüre ›anspruchsvoller‹ Literatur für den Leser in verschiedener Hinsicht von Vorteil sein kann. Im Anschluss erarbeitet Wettstein seine Unterscheidung verschiedener emotionaler Reaktionen auf Fiktion. Er differenziert – erfreulicherweise – zwischen emotionalen Reaktionen auf fiktive Figuren einerseits und auf den impliziten Autor andererseits, drittens kann die Lektüre Reflexionen über das eigene Leben auslösen und emotionale Reaktionen auch auf diese gerichtet sein. Außerdem unterscheidet er zwischen empathischen Gefühlen mit fiktiven Figuren oder dem impliziten Autor, Sympathie, Freundschaft und Identifikation. Diese Differenzierungen sind tatsächlich ein großer Gewinn für die Debatte. Dass empathisch oder sympathisch empfundene Gefühle anders zu analysieren sind als z.B. Furcht, die um die eigene Person empfunden wird, ist ein sehr wichtiger Hinweis, da – wie der Autor selbst anmerkt – in der Debatte um das Fiktionsparadox häufig weder die Bandbreite der emotionalen Reaktionen auf Fiktion hinreichend beachtet wird, noch auf die Unterschiede der jeweiligen Emotionen genügend eingegangen wird.

Bei seiner Darstellung des Fiktionsparadoxes unterscheidet Wettstein zwischen einer konzeptuellen und einer normativen Frage, die sich in Bezug auf emotionale Reaktionen, die auf Fiktion gerichtet sind, stellen: Sind emotionale Reaktionen auf Fiktion genuine Emotionen? Ist es rational bzw. angemessen, emotional auf Fiktion zu reagieren?

In Bezug auf die konzeptuelle Frage gibt Wettstein drei mögliche Antworten: die Theorie der Quasi-Gefühle, die Gedankentheorie und die Theorie der echten Gefühle gegenüber Fiktionen. Da der Autor sich selbst als Vertreter der letztgenannten Theorie sieht, führt er im Rahmen der Darstellung der erstgenannten Ansätze auch Kritikpunkte an. Sein Hauptargument richtet sich gegen die sogenannte Theorie der Quasi-Gefühle bzw. gegen ihren prominentesten Vertreter, Kendall Walton. Es basiert auf der zuvor getroffenen Unterscheidung zwischen solchen Gefühlen, die für oder mit fiktiven Figuren bzw. dem impliziten Autor empfunden werden, und solchen Gefühlen, die ein solches Mitfühlen nicht enthalten. Wettstein argumentiert nun, dass Walton nur von letztgenannten Gefühlen, also solchen, die kein Mitfühlen beinhalten, spricht. Waltons berühmtes Beispiel von Charles, der sich vor dem herankriechenden Schleim fürchtet, sei nur ein Ausnahmephänomen, so Wettstein. Würden Waltons Analysen zutreffen, so würden sie nur einen kleinen und atypischen Bereich unserer emotionalen Reaktionen abdecken, denn typischerweise würden wir für oder mit den fiktiven Figuren fühlen. Ob diese Beobachtung von Wettstein tatsächlich zutrifft, mag man bezweifeln. Kommt es nicht häufig vor, dass wir uns über fiktive Figuren amüsieren oder empören, von ihnen angeekelt sind oder angezogen werden? Solche Reaktionen enthalten alle typischerweise keinen Perspektivwechsel und zählen nicht als ein empathisches oder sympathisches Fühlen für oder mit einer Figur. Doch auch falls Wettstein mit seiner Einschätzung richtigliegen sollte, ist es wichtig zu bemerken, dass er gegen Waltons Analyse außer der genannten Einschränkung keine Einwände hat. Daraus ergibt sich aber, dass er eine Theorie der echten Gefühle ebenfalls nur mit Einschränkungen vertreten kann, nämlich nur in Bezug auf sympathische und empathische Gefühle. Einerseits geht Wettstein davon aus, dass Empathie in gleicher Weise für reale Personen wie für fiktive Figuren empfunden werden kann. Andererseits vertritt er aber in Bezug auf empathisch empfundene Gefühle die Position, dass es sich bei diesen um keine Gefühle im eigentlichen Sinn handelt. Und so schrumpft der Gegenstandsbereich seiner Variante der Theorie der echten Gefühle gegenüber Fiktionen auf die sympathisch empfundenen Gefühle. Explizit hieße das, dass nur sympathisch empfundene Gefühle für fiktive Figuren oder den impliziten Autor genuine Gefühle sind. Wir empathisieren mit fiktiven Figuren so wie auch mit echten Personen. Die Gefühle, die wir dabei empfinden, sind aber in beiden Fällen keine genuinen Gefühle. Schließlich sind Gefühle, die kein Mit-Fühlen beinhalten, als Quasi-Gefühle in Waltons Sinn zu verstehen. Das ist eine interessante und so bisher noch nicht vertretene Position, für die es sich sicher zu argumentieren lohnen würde. Sie würde auch der im Vorfeld geleisteten Differenzierungsarbeit gerecht werden. Und so ist es ein wenig bedauerlich, dass der Autor sie nicht als eine eigene Position darstellt, sondern unter das Label »Theorie der echten Gefühle« (137) stellt. Die sympathischen Gefühle gegenüber Fiktionen fasst Wettstein als »epistemische Gefühle« (140) auf. Diese unterscheiden sich, so der Autor, von »faktischen« (ebd.) Gefühlen dadurch, dass die zentrale kognitive Komponente eine Vorstellung und nicht eine Überzeugung ist. Wettsteins Argument ist nun, dass solche epistemischen Gefühle alltägliche Phänomene sind und nicht nur im Zusammenhang mit Fiktion auftreten. Daher seien Gefühle, die auf Fiktionen gerichtet sind, als genuine Gefühle anzusehen. Dieses Argument ist von großer Überzeugungskraft, richtet sich aber nur auf ein angebliches Unterscheidungskriterium zwischen genuinen und nicht-genuinen Gefühlen.

Indem Wettstein Vorstellungen als zentrale Komponente der zu betrachtenden Gefühle ausmacht, ist seine Position auch als eine Variante der so genannten Gedankentheorie anzusehen. Ein wesentlicher Unterschied solle darin bestehen, dass er nicht nur von einer Vorstellung als kognitiver Komponente ausgeht, sondern eben auch von Werturteilen, die mit Bezug auf die Vorstellung gefällt werden. Indem diese Werturteile als Bestandteil der emotionalen Reaktion mit aufgenommen werden, soll ein Problem umgangen werden, das der Gedankentheorie droht: Diese Theorie könne, so der Autor, nicht erklären, warum manche Vorstellungen emotionale Reaktionen provozieren, andere dagegen nicht. Ob Werturteile tatsächlich die Lösung für dieses Problem sein können, ist fraglich. Schließlich lassen sich auch Fälle denken, in denen z.B. geurteilt wird, dass etwas gefährlich ist, ohne dass der Urteilende Angst verspürt.

In Bezug auf die normative Frage, ob es generell irrational oder unangemessen ist, emotional auf fiktive Figuren zu reagieren, argumentiert Wettstein dafür, den Irrationalitäts- und Unangemessenheitsverdacht fallen zu lassen. Eine Überzeugung, die eine Existenzannahme des Bezugsobjekts beinhaltet oder zumindest impliziert, ist kein Bestandteil eines epistemischen Gefühls. Daher müssen Rezipienten von Fiktion keine sich widersprechenden Überzeugungen bezüglich der Existenz der Gegenstände ihrer emotionalen Reaktionen unterstellt werden. Allerdings, das merkt der Autor an, trifft dies eben nur auf empathische oder sympathische Gefühle zu. Die Angst, die Charles vor dem grünen Schleim empfindet, scheint, so Wettstein, tatsächlich mit inkonsistenten Überzeugungen einherzugehen. Es scheint daher so, dass der Autor auch in Bezug auf die normative Frage keine einheitliche Position bezüglich aller emotionalen Reaktionen auf Fiktion bezieht. Das ist für sich genommen in keiner Weise als Nachteil anzusehen. Vielmehr scheint es so, dass Wettstein versucht, der Vielfalt der Gefühle gerecht zu werden. Wünschenswert wäre es aber gewesen, zu erfahren, aus welchem Grund Charles sich in Widersprüche verstrickt und ob Angst hier eine Ausnahme darstellt. Was ist mit der Leserin, die am Ende des Romans um Anna Karenina trauert? Trauer wird von Wettstein als ein faktisches Gefühl charakterisiert (vgl. 140) und müsste daher als zentrale kognitive Komponente eine Überzeugung haben, die zumindest eine Existenzannahme bzgl. des Objekts der Trauer impliziert. Es scheint daher, als müssten wir, Wettstein folgend, auch in diesem Fall annehmen, dass es sich um eine irrationale Reaktion handelt.

Es wäre aber lohnenswert herauszufinden, ob nicht auch nicht-fremdzentrierte Gefühle eine Vorstellung als kognitive Komponente haben können. Angesichts der Beschreibungen, die Wettstein für epistemische Gefühle gibt, scheint dies eine plausible Annahme zu sein. Die Vorstellung, dass mir etwas Schlimmes zustoßen könnte, löst in mir Angst aus. Ich habe aber gerade nicht die Überzeugung, dass mir etwas Schlimmes in diesem Moment zustößt, noch nicht einmal, dass mir etwas Schlimmes zustoßen wird. Würden wir das akzeptieren, würde die Unterscheidung zwischen faktischen und epistemischen Gefühlen nicht zu einer Sortierung der Emotionstypen führen. Sofern ein Gefühl eine Vorstellung als zentrale kognitive Komponente hätte, würde es als epistemisches Gefühl gelten. Ob ein Gefühl als irrational oder unangemessen einzustufen wäre, würde konsequenterweise dann daran bemessen, welche zentrale kognitive Komponente vorliegt, und so müsste auch Charles nicht unterstellt werden, dass er sich in Widersprüche verstrickt. Das wäre auch deshalb ein wünschenswertes Ergebnis, weil es ein typischer Fall ist, dass die Zuschauer gruseliger Filme Angst vor den Monstern haben, aber gerade nicht glauben, dass diese tatsächlich existieren. Genauso stellt sich Walton auch Charles vor:[6] Charles glaubt nicht, dass der grüne Schleim tatsächlich existiert oder dass er selbst tatsächlich in Gefahr ist. Charles hat, so Walton, die Überzeugung, dass der grüne Schleim in der Welt der Fiktion existiert und er selbst, ebenfalls in der Welt der Fiktion, in Gefahr ist. Für Walton spielt diese Überzeugung klarerweise eine zentrale Rolle, aber es ist nicht bestreitbar, dass diese Überzeugung auf eine andere mentale Einstellung, nämlich eine make-believe-Einstellung bezogen ist, diese also ebenfalls eine wichtige Rolle beim Zustandekommen der Quasi-Angst spielt. Ob nun make-believe-Einstellungen genau die Zustände sind, die Wettstein als zentrale Komponenten epistemischer Gefühle annimmt, ist eine offene Frage, aber zumindest scheint es etwas sehr Ähnliches zu sein. Das macht deutlich, dass die Analysen des Zustandekommens und der Komponenten der auf Fiktion gerichteten Gefühle nahe beieinanderliegen.

In seinem letzten Kapitel widmet sich Wettstein schließlich der Frage, ob und in welcher Weise die Rezeption von Fiktion zu einer Gefühlskultivierung beitragen kann. Er kommt zu dem wenig überraschenden und wenig kontroversen Ergebnis, dass die Lektüre elaborierter Literatur, die das Gefühlsleben der Figuren in den Fokus nimmt, dem Leser dazu verhelfen kann, sich besser in Bezug auf seine Gefühle zu artikulieren. Ob Literatur, die mit einer einfacheren Sprache auskommt, schlechtere Ergebnisse in dieser Hinsicht erzielt und ob tatsächlich, wie von Wettstein behauptet, von ihr Gefahren ausgehen, sind empirische Fragen. Es gibt nicht wenige Psychologen und Neurowissenschaftler (z.B. Gerrig, Green, Jacobs, Mar und Oatley), die Rezeptionsprozesse untersuchen, z.T. mit dem Fokus auf Unterschiede zwischen Trivial- und Hochliteratur. Diese Arbeiten finden aber auch in diesem Kapitel, in dem die Beschäftigung mit empirischen Ergebnissen hilfreich gewesen wäre, keinerlei Beachtung.

Dass sich die Rezeption von Literatur nicht nur positiv auf das Gefühlsleben bzw. die Gefühlskultivierung auswirken kann, ist ebenfalls ein wenig überraschendes Ergebnis. Überraschend ist aber, dass der Autor, ohne diese Auswahl zu begründen, nur auf mögliche negative Auswirkungen von – offenbar vornehmlich von Frauen gelesenen – Kitschromanen eingeht und dabei zu folgendem Ergebnis kommt: »Kitsch und Sentimentalität in der Literatur stellen also ein beträchtliches Problem dar, weil sie zu unangemessenen Gefühlen verleiten. Gerade deswegen ist es eminent wichtig, die richtigen Werke zu lesen und als Leser in einer intelligenten Weise mit Literatur umzugehen.« (162) In keiner Weise soll dem Autor hier eine frauenfeindliche Position unterstellt werden, aber es wäre doch in mehreren Hinsichten aufschlussreich gewesen, wenn nicht nur die potentiellen Gefahren bestimmter Lektüre für ein vornehmlich weibliches Publikum thematisiert worden wären. Wie verhält es sich mit Literatur, die Gewalt explizit darstellt oder wie mit pornografischer Literatur?

Selbstverständlich ist aber die Betrachtung von Kitschliteratur, sowie der Versuch, diese von Hochliteratur abzugrenzen, ein spannendes Unterfangen. Dem zuweilen etwas sprunghaften Text lässt sich die These entnehmen, dass Kitsch zu sentimentalen Gefühlen einlädt, Hochliteratur dagegen zu unsentimentalen Gefühlen. Diese Einladungen zu jeweils unterschiedlichen Gefühlen, so kann man Wettstein verstehen, sind Funktionen der jeweils unterschiedlich differenzierten Gestaltung fiktiver Figuren und Situationen: Kitschliteratur liefere »vage klischeehafte Figuren und Situationen« (161), Hochliteratur dagegen »glaubhafte Charaktere« (ebd.). Selbstverständlich wäre es unangemessen, ausführliche Überlegungen zu den Bemessungskriterien künstlerischer Qualität und Kanonizität an dieser Stelle zu erwarten. Es wäre aber beispielsweise interessant gewesen zu erfahren, ob das Vorhandensein der genannten Merkmale von Hochliteratur als notwendige oder hinreichende Bedingung für diese Form der Literatur angesehen werden muss. Weil die Unterscheidung zwischen Hoch- und Trivialliteratur eine so zentrale Bedeutung für den gesamten letzten Teil des Buches hat, wäre es aber doch hilfreich gewesen, mit etwas mehr als nur dem oben genannten und dem exemplarischen Verweis auf Tolstois Anna Karenina zurechtkommen zu müssen.

Nun liefert Wettstein allerdings auch noch ein nicht-textimmanentes Unterscheidungskriterium, nämlich die emotionale Reaktion der Leser. Diese unterteilt er in die »sentimentalen« und die »nicht-sentimentalen Gefühle« (159) und nennt im Rahmen der Begriffsbestimmung von »Sentimentalität« (ebd.) auch drei Kriterien sentimentaler Gefühle: (1) sentimentale Gefühle seien kurzlebig; (2) bei sentimentalen Gefühlen gehe es nicht wirklich um das Objekt des Gefühls, sondern vielmehr um das Gefühl und den Genuss des Gefühls selbst; (3) sentimentale Gefühle seien nicht handlungsrelevant (vgl.159). Die These scheint zu sein, dass Werke, die diese Gefühle hervorrufen, in die Kategorie der Kitschliteratur fallen, Hochliteratur dagegen nicht-sentimentale Gefühle bei der Leserschaft provoziert. Die drei genannten Kriterien werfen allerdings mindestens zwei interessante Probleme auf, wovon eines dem Autor auch nicht entgangen ist: Die oben aufgeführten Beschreibungen scheinen auch auf Gefühle zuzutreffen, die sich auf fiktive Gegenstände richten und von Hochliteratur provoziert werden. Wettstein ist aber nicht bereit, auch diese Gefühle in die Kategorie der sentimentalen Gefühle fallen zu lassen, nicht zuletzt, weil er anderenfalls eines seiner zentralen Unterscheidungskriterien zwischen Hoch- und Kitschliteratur verlieren würde. An dieser Stelle wäre eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem gerade skizzierten Problem hilfreich gewesen. So bleibt es aber offen, ob die genannten Merkmale tatsächlich auch solche von Gefühlen sind, die Hochliteratur auslöst, und ob eben diese Gefühle Eigenschaften haben, die sie von den sentimentalen Gefühlen unterscheiden. Des Weiteren – und dies lässt der Autor unbeachtet – sind die oben genannten Eigenschaften sentimentaler Gefühle auch solche, die als Unterscheidungsmerkmale zwischen genuinen und nicht-genuinen Gefühlen angeführt werden. Wie sich diese beiden Unterscheidungen zueinander verhalten und ob diese Merkmale für die eine oder andere Unterscheidung tatsächlich geeignet sind, bleibt leider offen.

Aber hat Hochliteratur nicht auch das Potenzial, Lesern zu schaden? Ist Eskapismus in fiktive Welten nur bei Kitschliteratur möglich? Adrian Wettstein vertritt in seinem letzten Kapitel die These, dass auch anspruchsvolle Literatur schaden kann. Daher sei es wichtig, so der Autor, dass Leser den »angemessenen Umgang« (194) mit Literatur erlernen. Könnte aber nicht auch ein angemessener Umgang mit Kitschliteratur eingeübt werden? Wettsteins intuitiv plausible These wirft die Frage auf, warum die geschulte und geübte Leserin nicht auch von Kitschliteratur profitieren kann. Allein mit dem Verweis auf die mangelnde Differenziertheit der Beschreibungen von Figuren und Situationen in der Kitschliteratur ist diese Frage klarerweise nicht beantwortet.

Wettsteins Arbeit liefert Einblicke in eine äußerst spannende Debatte bzgl. der Natur fiktionaler Gefühle. Wünschenswert wäre es gewesen, wenn der Autor insgesamt mehr neuere Beiträge berücksichtigt hätte, um einen Überblick über den aktuellen Stand der Diskussionen zu liefern. Außerdem gelingt es dem Autor nicht durchgängig, Überlegungen und deren Ergebnisse aus den einzelnen Kapiteln aufeinander zu beziehen. Gerade dies wäre insbesondere für die Verknüpfung der beiden zentralen Fragestellungen aber wichtig gewesen. Die im vierten Kapitel vorgenommenen Unterscheidungen sind aber äußerst erhellend und leisten einen echten Beitrag zu der Debatte um das so genannte Fiktionsparadox. Die Auseinandersetzung mit den Potenzialen der Literatur in Bezug auf die Kultivierung unserer Gefühle bleibt aber hinter dem Niveau der vorhergegangenen Kapitel etwas zurück.

Anmerkungen

[1] Vgl. Justin D’Arms /Daniel Jacobson, The Moralistic Fallacy: On the ‘Appropriateness’ of Emotions, Philosophy and Phenomenological Research 61:1 (2000), 65–90. [zurück]

[2] William Lyons, Emotion, Cambridge 1980. [zurück]

[3] Vgl. Antti Kauppinen, A Sentimentalist Solution to the Moral Attitude Problem, in: Russ Shafer-Landau (Hg.), Oxford Studies in Metaethics, Volume 5, Oxford 2010, 225–256. [zurück]

[4] Vgl. Alvin Goldman, Simulating Minds. Philosophy, Psychology, and Neuroscience of Mindreading, Oxford 2006. [zurück]

[5] Vgl. Gregory Currie, The Nature of Fiction, Cambridge 1990. [zurück]

[6] Vgl. Kendall Walton, Fearing Fictions, Journal of Philosophy 75:1 (1978), 5–27. [zurück]

2017-07-15

JLTonline ISSN 1862-8990

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In: JLTonline (15.07.2017)

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