Tom Kindt

Ralph Müller

Bi-Direktionalität macht aus der Not eine Tugend

Transdisziplinarität in den Kognitionswissenschaften

Marcus Callies/Wolfram R. Keller/Astrid Lohöfer (Hg.), Bi-Directionality in the Cognitive Sciences. Avenues, Challenges, and Limitations. Amsterdam/ Philadelphia: John Benjamins Publishing Company 2011. viii, 313 S. [Preis: EUR 90,00]. ISBN: 978-90-272-2384-5.

Der vorliegende Band versammelt 15 sprach- und literaturwissenschaftliche Beiträge mit kognitiver Ausrichtung einer fast gleichnamigen Marburger Konferenz von 2009. Nur die literaturwissenschaftlich relevanten Beiträge werden im Folgenden rezensiert. [1] Meine Gliederung richtet sich nicht nach der Reihenfolge der Beiträge, sondern folgt thematischen Gesichtspunkten: (1) »Bi-Direktionalität«, (2) Empirisierung der kognitiven Sprach- und Literaturwissenschaften, (3) Beiträge zur Kognitiven Poetik, (4) Fazit.

1. »Bi-Direktionalität«

Unter ›Bi-Direktionalität‹ wird in diesem Sammelband der Austausch zwischen unterschiedlichen Disziplinen verstanden. Dabei geht es um einen ›transdisziplinären‹ Austausch, der in (mindestens) zwei Richtungen verläuft und der über punktuellen (lediglich ›interdisziplinären‹) Theorieimport hinausgeht.

In den Kognitionswissenschaften ist Bi-Direktionalität kein frommer akademischer Wunsch. Kognition liegt im Schnittpunkt mehrerer Disziplinen mit deutlichen Unterschieden in den Fachtraditionen und Methoden (z.B. zwischen Psychologie, Neurologie und Kognitiver Linguistik). Tatsächlich wird mit dem Ziel der ›Bi-Direktionalität‹ aus einer Not der kognitiven Sprach- und Literaturwissenschaften (nämlich, dass sie die Auseinandersetzung mit szientifischen Methoden erfordert [2]) eine Tugend gemacht. Allerdings wird auch im vorliegenden Band Bi-Direktionalität von den ›weichen‹ kognitiven Sprach- und Literaturwissenschaften aus betrieben.

2. Empirisierung der kognitiven Sprach- und Literaturwissenschaften

Obwohl die Beiträge in eine affirmative Sektion »Avenues for Bi-Directionality« und eine vorgeblich kritischere »Challenges to and Limitations on Bi-Directionality« geteilt wurden, erhebt nur Anatol Stefanowitschs abschließender programmatischer Artikel zum Verhältnis zwischen Kognitiver Linguistik und den Kognitionswissenschaften die Methodenfrage zum Problem. Etwas provokativ spricht Stefanowitsch einem Großteil der Kognitiven Linguistik aufgrund fehlender Wissenschaftlichkeit die Zugehörigkeit zu den Kognitionswissenschaften ab (vgl. 302). Vielmehr würde meistens ein selektiver Theorieimport, seltener ein Export mit Integration von Ergebnissen in das Zentrum der Kognitionswissenschaften stattfinden. Stefanowitsch fordert dazu auf, Kognitive Linguistik vermehrt als eine eigenständige kognitive Wissenschaft mit eigenen empirischen Grundlagen zu konzipieren. Der Vorschlag ist interessant: Indem mit eigenen Methoden kognitionswissenschaftlich relevante Resultate erbracht werden, könnte auf den Avenuen der Bi-Direktionalität endlich Zweibahnverkehr eingerichtet werden. Für Stefanowitsch spielt dabei die Korpuslinguistik eine zentrale Rolle. Empirisierung wird aber allgemeiner gefasst im Sinne einer methodisch angeleiteten Analyse sowie einer Operationalisierung von Fragestellungen im Hinblick auf falsifizierbare Hypothesen (vgl. 305). Dies sind nunmehr Zielsetzungen, die nicht nur für die Kognitive Linguistik, sondern ebenso für die Kognitive Poetik wünschenswert sind, und ich vermute, dass sie auch innerhalb von modularen Ansätzen der Chomsky-Tradition (gegen die Stefanowitsch als Korpuslinguist in seinem Beitrag Partei ergreift, vgl. 298 f.), vertretbar sind.

Stefanowitsch erwähnt auch die theoretischen Fußangeln beim Rückschluss von Sprache auf Kognition (vgl. 301, 303 f.). Noch deutlicher problematisiert Juliana Goschler den Zusammenhang von Korpusdaten und mentalen Strukturen (vgl. 291). Ihre Erhebungen zeigen, dass metaphorische Verwendungsweisen, z.B. das Herz als Sitz des Gefühls und der Persönlichkeit, nicht mit der Vorstellung einhergehen, dass eine Persönlichkeit durch Herztransplantation übertragen werden könne. Das Ergebnis ist an sich nicht spektakulär. Es belegt zunächst, dass die Mehrheit der Befragten den Unterschied zwischen metaphorischer und nicht-metaphorischer Rede kennt. Dennoch bietet es einen weiteren Beleg für das methodische Problem, dass Sprache nicht unbedingt Kognition spiegelt. Dies verbietet im Prinzip, von einem Text aus auf Kognitionen zu schließen. Dennoch geschieht dergleichen bisweilen in diesem Band.

3. Beiträge zur Kognitiven Poetik

3.1. Das Soziale und die Kognition

Eine der wichtigen Leistungen dieses Bandes liegt m.E. darin, dass in mehreren Beiträgen sozialwissenschaftliche Verfahren integriert wurden. Damit wird ein wichtiger Aspekt der Rezeption zugänglich (insbesondere im Beitrag von Zhang).

Das sozialwissenschaftliche Potenzial des transdisziplinären Fokus dieses Sammelbandes deutet sich an in Gerard Steens Artikel »Genres between the Humanities and the Sciences«. Steen, einer der wichtigen Exponenten der Kognitiven Poetik, [3] greift nach mehreren Jahren intensiver Publikationstätigkeit zur Metapher mit dem Thema Gattungen einen früheren Forschungsschwerpunkt auf. [4] Doch im Gegensatz zu seinen frühen klassifikatorischen Modellen scheint es sich hier um eine Skizze eines kognitiven Gattungsmodells zu handeln, das linguistische, kognitive und sozialwissenschaftliche Perspektiven vereint. Ausgangspunkt ist das textlinguistische Modell von van Dijk und Kintsch (vgl. 27), das erweitert wird, um die diversen Dimensionen des Gattungserkennens zu modellieren (vgl. 32 ff.). Mir ist jedoch nicht klar geworden, inwieweit dieses Modell tatsächlich die Kompetenzen von Leser/innen unterschiedlicher gesellschaftlicher oder historischer Hintergründe modellieren soll, Texte bestimmten Gattungen zuzuordnen. Jedenfalls weisen Steens eigene Beispielanalysen zum Szenario der Liebesbeziehung (vgl. 35–37) in der historischen Dimension Schwächen auf. So ist Sir Henry Wottons Text Upon the Death of Sir Albert Morton’s Wife nicht einfach ein »poem«, dessen Inhalt das Liebesszenario reflektiert. Das Gedicht steht insbesondere in der literarischen Tradition des Epigramms, und der »humorous effect« (36), den Steen beobachtet, ist Teil der Gattungserwartungen eines Epigramms.

Alexandra Kleemans Beitrag importiert den von der Psychologie belegten ›Mere Exposure Effect‹ (die Tatsache, dass zunehmende Vertrautheit mit einem positiv gewerteten Gegenstand zu zunehmend positiver Evaluierung desselben führt). Die sozialwissenschaftliche Dimension ergibt sich daraus, dass Kleeman den Effekt nicht nur auf die individuelle Rezeption von zunächst verfremdend wirkenden Texten bezieht, sondern eine Korrelation zwischen individuellem Gewöhnungseffekt und gesellschaftlicher Kanonbildung herstellt. Allerdings stützen sich Kleemans Aussagen auf Übertragungen von Studien, die nicht an literarischen Gegenständen vorgenommen wurden, obwohl man Werken der bildenden Kunst in einer anderen Weise ausgesetzt wird als literarischen Texten.

Aus einer interkulturellen Perspektive beschäftigt sich Yehong Zhang mit der Rezeption deutscher und chinesischer Märchen im jeweiligen kulturellen Fremdkontext. Grundlage der Studie ist die Erhebung von Rezeptionseindrücken zu zwei eher weniger bekannten Märchen. Dabei geht es vor allem um den seltsamen Erfolg, den Grimms Märchen nicht zuletzt im asiatischen Raum hatten, während z.B. chinesischen Märchen ein vergleichbarer internationaler Erfolg verwehrt blieb. Zhang kommt zum Schluss, dass Grimms Märchen gerade dadurch eine breitere Rezeption erhalten konnten, weil ihre Textwelten (trotz wunderbaren Inhalts) nicht in jenseitigen Sphären angesiedelt sind, sondern stets einen Bezug zu einer empirisch erfahrbaren Wirklichkeit bewahren.

3.2. Uneigentlichkeit

Uneigentlichkeit ist auch in diesem Band einer der wichtigsten Gegenstände kognitiver Forschung, welche hier allerdings hauptsächlich auf die linguistische Erschließung von alltagssprachlichen Metaphern ausgerichtet sind. Nur Beatrix Busses Beitrag beschäftigt sich mit Paul Austers Romanen The Brooklyn Follies und The Book of Illusions anhand des Metaphernkomplexes Writing is Medicine. Ausgangspunkt ist eine Analyse der Metaphern im Rahmen von Fauconniers und Turners Blending-Theorie, um die Analogie von Schreiben und medizinischer Behandlung darzustellen (vgl. 129). Busses Beitrag ist insofern innovativ, als er in der Folge eine korpusstilistische Begründung der Interpretation sucht. Zu diesem Zweck wurden mit dem Programm Wmatrix Häufigkeiten von Wortvorkommen sowie syntaktischer und semantischer Typen erhoben [5] und mit insgesamt drei weiteren Referenzkorpora verglichen. Diese Vergleiche können aber kein signifikantes Vorkommen von Ausdrücken und semantischen Klassen belegen, die eindeutig mit Heilung oder Medizin verbunden wären. Demgegenüber erhalten gerade semantisch unspezifische Konjunktionen wie ›if‹ besondere Aufmerksamkeit. Auf diese Weise lernen wir viel über Austers Erzählstrategien, aber die zentrale Rolle des metaphorischen blends Writing is Medicine wurde für mich noch nicht überzeugend dargelegt.

Während Busse den Versuch unternimmt, eine kognitiv informierte Interpretation textuell weiter abzusichern, beschreitet Wolfgang G. Müllers Beitrag zur Ironie einen traditionelleren Weg. Der Beitrag ist in die skeptische Sektion geraten. Tatsächlich lässt Müller durchblicken, dass er nicht alle Erkenntnisse der kognitiven Ironieforschung akzeptieren mag. Die Einebnung des Unterschieds von Litotes und Ironie nimmt er mit Befremden zur Kenntnis. Ebenso hält er an der Annahme fest, dass ironische Aussagen zunächst eigentlich und erst im zweiten Schritt uneigentlich interpretiert werden (entgegen empirischen Belegen [6]). Dennoch referiert Müller (einer der besten Kenner der traditionellen Rhetorik und Poetik der Ironie) die kognitiven Modelle mit überraschend viel Wohlwollen:

  1. Die ›Echoic Mention Theory‹ ist im Rahmen der Relevanztheorie von Sperber und Wilson entwickelt worden. [7] Sie geht davon aus, dass Äußerungen ironisch sind, in denen Sprecher frühere Aussagen sozusagen zitieren, um eine herablassende Einstellung zu signalisieren. Die Herausforderung für die Hörer besteht darin, die Aussagen im neuen Kontext zu interpretieren. In der ›Echoic Mention Theory‹ muss die zitierte Aussage nicht nachweisbar gefallen sein, sondern kann nach Art der Parodie mögliche Aussagen nachahmen. [8] Müller zeigt, dass sich dieser Ansatz insbesondere bei rhetorischen Wiederholungen, etwa bei der Analyse der Rede des Antonius in Shakespeares Julius Caesar, bewährt.

  2. Die ›Pretense Theory of Irony‹ geht davon aus, dass der ironische Sprecher vorgibt, naiv gegenüber einem nicht eingeweihten Publikum zu sprechen, mit der Absicht, dass diese Verstellung zumindest von einigen durchschaut wird. [9] Müller spendet diesem Ansatz besonders viel Beifall, da sie sich gerade für die Frage der Verstellung im Drama hervorragend benutzen lässt und zumindest teilweise an Renaissance-Theorien der Ironie anschließbar ist.

3.3. Verstehen und Hermeneutik

Die letzte Gruppe »Verstehen und Hermeneutik« versammelt sehr unterschiedliche Beiträge im Spannungsfeld zwischen Textanalyse, literaturwissenschaftlicher Interpretation und kognitiver Modellbildung.

Der Beitrag »How Novels Feel« von Wolfram R. Keller, Astrid Lohöfer und Christine Ott beschäftigt sich mit der möglichen Rolle der Emotionalität bei hermeneutischen Interpretationen. Der Titel weckt u.a. die Erwartung, hier würden emotionale Reaktionen auf Romane untersucht. Im Zentrum steht stattdessen der mögliche Ertrag von identifikatorischem Lesen, das Emotionen zulässt, für die Literaturwissenschaft. Gegenstand der Studie sind zwei Romane (Serge Doubrovskys autofiktionaler Roman Fils und David Willams Eye of the Father), in denen sich Literaturwissenschaftler/innen von einem realen Text ›betroffen‹ fühlen, sodass sie nicht nur ein besseres Selbstverständnis, sondern gleichzeitig eine innovative Interpretation des Textes finden. Die abschließende Aufforderung der Verfasser, die subjektiven Aspekte der Rezeption nicht auszublenden (vgl. 95–97), ist zwar prinzipiell begrüßenswert. Allerdings begründet die Erzählung eines geglückten emotionalisierten Lesens noch nicht, was die Bedingungen für den Erfolg eines solchen Verfahrens sind. Nicht zuletzt halte ich es für wichtig, idiosynkratische Lesarten von Texten klar abzugrenzen von hermeneutisch verfahrenden Textanalysen. [10]

Stephan Freißmanns Beitrag »Cognitive Poetics and the Negotiation of Knowledge« widmet sich dem wichtigen Thema der Vermittlung von Wissen in Literatur. Angesichts der jüngeren literaturtheoretischen Diskussionen über Wissen und Literatur, ist ein kognitivistischer Beitrag zu dieser Debatte ein Desiderat. Ich zweifle jedoch, ob dieser Beitrag diese Lücke füllen kann. In literaturtheoretischer Hinsicht werden die unterschiedlichen Wissensbegriffe kaum aufbereitet (vgl. z.B. 102). Aber auch das kognitive Modell der Wissensvermittlung beruht m.E. auf einem terminologischen Trick, wenn das Wissen von Erzählungen als »narrative knowledge« konzipiert wird (107). Einerseits bleibt das Verhältnis dieser Wissensform zu den zuvor etablierten Formen von »Wissen was« und »Wissen wie« unklar (vgl. 105f.). Andererseits entsteht bisweilen der Eindruck, dass ein direktes Verhältnis zwischen Erzählung und narrativem Wissen unterstellt wird, sodass der Leser wie eine Maschine erscheint, die anscheinend nicht anders kann, als bestimmte mentale Operationen zu vollziehen.

Die Zielrichtung von Dirk Vanderbekes ideenreichem Beitrag »The Mind and the Text / the Mind in the Text« hat sich mir nicht wirklich erschlossen. Einerseits wird die Frage des Füllens von Leerstellen angesprochen, andererseits behandelt die Studie vor allem interpretation-deformierende Phänomene: Hauptgegenstand sind nämlich fiktionale Erzählungen, in denen Fragen der Kognition verhandelt werden und in denen in einer Art metaleptischer Wendung dieselben psychischen Deformationen an den Figuren (aber letztlich auch an den Leser/innen) ausprobiert werden.

Gary Thoms und Stefano Versace geht es – wie schon der Titel »How Does the Mind Do Literary Work?« andeutet – um grundlegende Fragen der Verarbeitung von Literatur. Hierzu vertreten sie einen modularen Ansatz (in trotziger Opposition zu Stefanowitschs Verteidigung der holistischen Tradition von Lakoff, Talmy et al.). Ich selber kann den unversöhnlichen Streitereien zwischen holistischer und modularer Sicht wenig Sinn abgewinnen. Doch Thoms’ und Versaces Argumente haben mich schon aus literaturwissenschaftlicher Perspektive nicht überzeugt. Ein zentrales Argument von Thoms und Versace betrifft das bekannte Faktum, dass metrische Muster sprachlich unterschiedlich realisiert werden können. Die umfangreiche kognitive Forschung zum Metrum [11] spielt für die Argumentation keine Rolle. Es geht vielmehr um die formale Beobachtung, dass in der italienischen Metrik bisweilen phonologische Silben zusammengezogen bzw. aufgespaltet werden (Synärese und Diärese), dieses Phänomen kann sich auch über Wortgrenzen hinaus erstrecken (Synalöphe und Dialöphe). [12] Für Versace und Thoms sind dies Belege dafür, dass gewisse Formelemente von Texten nicht holistisch erklärt werden können, sondern die gesonderte modulare Verarbeitung von Metrum, Phonologie, Syntax, Semantik und Pragmatik voraussetzen (vgl. 235 f.). Obwohl den Verfassern zuzustimmen ist, dass Phonologie allein ein Metrum nicht zu erklären vermag, ist damit m.E. die traditionelle Sicht noch nicht widerlegt, dass der Umgang mit poetischen Lizenzen eine mühsam erlernte kulturelle Konvention ist. Zudem haben sich Thoms und Versace nicht eindeutig geäußert, wie sich sprachabhängige metrische Systeme auf das Metrum-Modul auswirken, obwohl sie mit italienischen (silbenzählenden) und deutschen (akzentzählenden) Gedichten Texte mit unterschiedlichen metrischen Systemen verwenden.

4. Fazit

Es ist erfreulich zu sehen, wie die Methoden- und Themenvielfalt der Literaturwissenschaft nach dem cognitive turn zugenommen hat. Insbesondere die Integration sozialwissenschaftlicher und korpusstilistischer Ansätze erscheint vielversprechend.

Etwas bedenklich stimmt mich die bisweilen fehlende Differenzierung von Textanalyse und kognitiver Modellbildung. Da der menschliche Geist notorisch unaufmerksam und ungenau ist, scheint es mir einfach unangemessen zu sein, von literarischen Analysen auf das Kognitive zu schließen. Ein solches Vorgehen führt etwa zu Aussagen wie »[…] in order to form a correct mental model of the story world and the knowledge generated by the novels, readers have to produce a system of hierarchically nested mental models« (113). Abgesehen davon, dass Literaturwissenschaftler/innen den Leser/innen keine Gedanken vorschreiben können, sind solche Aussagen nicht vereinbar mit dem Prinzip der Kognitiven Poetik, dass alle Interpretationen (gerade die naiven) relevant sind. [13] Deshalb ist es sinnvoll, von einer Arbeitsteilung zwischen (hermeneutischer) Textanalyse und der kognitiven Beschäftigung mit den möglichen rezeptionsästhetischen Auswirkungen eines Texts auszugehen.

Insgesamt zeugen die Beiträge von einer guten Entwicklung der Kognitiven Poetik, das Themenspektrum und die Vielfalt der Methoden in sozialwissenschaftliche und korpuslinguistische Richtungen zu erweitern. In dieser Hinsicht führt Bi-Direktionalität tatsächlich zu einer Bereicherung der kognitiven Sprach- und Literaturwissenschaften.

Prof. Dr. Ralph Müller

Universität Freiburg/Schweiz

Germanistik

Anmerkungen

[1] Nicht rezensiert werden Susanne Niemeier: Culture-specific Concepts of Emotionality and Rationality; Marcus Callies: Widening the Goalposts of Cognitive Metaphor Research; Liane Ströbel: Invisible, Visible, Grammaticalization; Alexander Ziem: Cognitive Science Meets Language Pedagogy; Juliana Goschler: The Conceptualization of Personality. Converging and Diverging Evidence. [zurück]

[2] Zur Diskussion vgl. Martin Huber/Simone Winko (Hg.), Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes, Paderborn 2009. [zurück]

[3] Vgl. den frühen Sammelband Joanna Gavins/Gerard Steen (Hg.), Cognitive Poetics in Practice, London 2003. [zurück]

[4] Vgl. z.B. Gerard Steen, Genres of Discourse and the Definition of Literature, Discourse Processes 28 (1999), 109–120. [zurück]

[5] Seltsamerweise wurden die Arbeiten von Semino et al., die unter leicht variierenden Titeln publiziert wurden, zur Verwendung dieses Programms in der Metaphernanalyse nicht einbezogen, vgl. z.B. Andrew Hardie/Veronika Koller/Paul Rayson/Elena Semino, Using a Semantic Annotation Tool for the Analysis of Metaphor in Discourse, metaphorik.de 15 (2008), http://www.metaphorik.de/15/koller.pdf, 141–160 (12.06.2012). [zurück]

[6] Vgl. z.B. Raymond W. Gibbs, On the Psycholinguistics of Sarcasm, in: Raymond W. Gibbs/Herbert L. Colston (Hg.), Irony in Language and Thought: a Cognitive Science Reader, New York/London 2007, 173–200. [zurück]

[7] Vgl. Dan Sperber/Deirdre Wilson, Relevance. Communication and Cognition [1986], Malden/Oxford ²1995. [zurück]

[8] Vgl. Dan Sperber/Deirdre Wilson, On Verbal Irony [1992], in: Raymond W. Gibbs/Herbert L. Colston (Hg.), Irony in Language and Thought: a Cognitive Science Reader, New York/London 2007, 35–55. [zurück]

[9] Vgl. Herbert H. Clark/Richard J. Gerrig, On the Pretense Theory of Irony, in: Raymond W. Gibbs/Herbert L. Colston (Hg.), Irony in Language and Thought: a Cognitive Science Reader, New York/London 2007, 25–33. [zurück]

[10] Vgl. Harald Fricke/Ralph Müller, Cognitive Poetics Meets Hermeneutics. Some Considerations about the German Reception of Cognitive Poetics, Mythos-Magazin (2010), http://www.mythos-magazin.de/erklaerendehermeneutik/hf-rm_cognitivepoetics.pdf (12.06.2012). [zurück]

[11] Vgl. Katja Mellmann, Die metrische Gestalt. Mit Überlegungen zur Sinnfälligkeit des Viertakters, Journal of Literary Theory 2 (2008), 253–272; Reuven Tsur, Toward a Theory of Cognitive Poetics, Amsterdam 1992. [zurück]

[12] Zur Metrik deutscher und italienischer Literatur vgl.Renzo Caduff, Die Metrik Andri Peers im Spannungsfeld zwischen bündnerromanischer Tradition und europäischer Moderne, Dissertation Univ. Fribourg/Schweiz 2010. [zurück]

[13] Vgl. Harald Fricke/Ralph Müller, Cognitive Poetics Meets Hermeneutics. Some Considerations about the German Reception of Cognitive Poetics, Mythos-Magazin (2010), http://www.mythos-magazin.de/erklaerendehermeneutik/hf-rm_cognitivepoetics.pdf (12.06.2012). [zurück]

2012-06-26

JLTonline ISSN 1862-8990

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Ralph Müller, Bi-Direktionalität macht aus der Not eine Tugend. Transdisziplinarität in den Kognitionswissenschaften. (Review of: Marcus Callies/Wolfram R. Keller/Astrid Lohöfer [Hg.], Bi-Directionality in the Cognitive Sciences. Avenues, Challenges, and Limitations. Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins Publishing Company 2011.)

In: JLTonline (26.06.2012)

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