Tom Kindt

Sandra Heinen

Bestandsaufnahmen der Erzähltheorie

David Herman/Manfred Jahn/Marie-Laure Ryan (eds.), Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London/New York: Routledge 2005. xxix, 718 S. (Preis: GBP 135,00). ISBN: 978-0415282598.

James Phelan/Peter J. Rabinowitz (eds.), A Companion to Narrative Theory. Malden, MA: Blackwell 2005. xvii, 571 S. (Preis: GBP 85,00). ISBN: 978-1405114769.

1. Die Konjunktur der Erzähltheorie

Dass die Erzähltheorie in den letzten zwanzig Jahren nicht nur eine unerwartete Renaissance, sondern auch eine grundlegende Neuorientierung erfahren hat, wurde bereits mehrfach festgestellt und ist inzwischen fast ein Gemeinplatz. [1] War die Erzähltheorie lange Zeit primär strukturalistisch ausgerichtet, so umfasst sie heute eine Vielzahl innovativer Ansätze, zu deren bekanntesten die feministische Narratologie und die kognitive Erzählforschung zählen. Die Konjunktur und Neuorientierung der Erzähltheorie in den letzten Jahrzehnten stehen dabei vor allem mit zwei Faktoren in Zusammenhang: auf der einen Seite mit der Ausweitung erzähltheoretischer Fragestellungen von ausschließlich textuellen auf kontextuelle Phänomene; auf der anderen Seite mit dem so genannten narrative turn in den Kulturwissenschaften.

Während die klassische Narratologie in ihrem Bemühen, überzeitliche Strukturen von Erzähltexten zu identifizieren, den Kontext literarischer Werke weitgehend unberücksichtigt ließ, sehen viele Ansätze der postklassischen Narratologie in dieser Nichtberücksichtigung des Kontexts eine unzulässige Verkürzung und damit zugleich eine der größten Schwachstellen der klassischen Narratologie. In programmatischer Revision wurden daher Modelle und Verfahren entworfen, die es ermöglichen, die Bedeutung historischer, kultureller und kommunikativer Kontexte explizit zu machen.

Der Begriff narrative turn bezeichnet eine Aufwertung des Erzählens, das nun oft nicht mehr nur als eine spezielle Form der Kunstproduktion verstanden wird, sondern als grundlegendes Verfahren des Menschen, der Welt und dem eigenen Dasein Sinn abzugewinnen, indem Ereignisse in zeitliche und kausale Zusammenhänge eingebunden werden und so Kohärenz erzeugt wird. Ein solchermaßen verstandener Erzählbegriff bezieht sich zwangsläufig auf weit mehr als nur literarische Erzähltexte. Neben diesen haben daher in der Erzähltheorie insbesondere Erzählformen in anderen Medien (allen voran im Film, aber z.B. auch in der Musik) und in nicht-fiktionaler Kommunikation (z.B. Alltagserzählungen) an Bedeutung gewonnen. Entsprechend spielt Erzählforschung nicht mehr nur in der Literaturwissenschaft eine Rolle, sondern inzwischen auch in zahlreichen anderen Disziplinen. Im Zuge dieser Entwicklung wird die Erzähltheorie gelegentlich gar als eine Art Supertheorie der Humanwissenschaften gehandelt.

Durch die rasante Ausbreitung erzähltheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften ist ein facettenreiches interdisziplinäres Forschungsfeld entstanden, das selbst für Fachleute unübersichtlich zu werden droht. Hier setzen der Companion to Narrative Theory und die Routledge Encyclopedia of Narrative Theory an, denn das erklärte Ziel beider Bände ist es, einen Überblick über die Vielzahl theoretischer Grundannahmen und Fragestellungen zu bieten und den Lesern so Orientierung zu ermöglichen. Zu diesem Zweck wurde augenscheinlich alles mobilisiert, was in der Narratologie Rang und Namen hat, denn die Liste der Beiträger sowohl zum Companion als auch zur Encyclopedia liest sich wie ein ›Who is Who‹ der internationalen Erzähltheorie. So ist es auch nicht überraschend, dass zahlreiche Forscherinnen und Forscher in beiden Bänden vertreten sind, deren Konzeption freilich unterschiedlicher kaum sein könnte.

2. Der Companion to Narrative Theory

Der Companion to Narrative Theory versammelt 35 Artikel, die zu sechs Kapiteln zusammengestellt sind: einem Prolog, vier Hauptteilen und einem Epilog, in dem ein Blick in die Zukunft der Erzähltheorie geworfen wird. Etwa die Hälfte der Beiträge beschäftigt sich mit der traditionellen, textorientierten Erzähltheorie: Zunächst informiert der Prolog über die Geschichte der Erzähltheorie, wobei David Herman die Zeit der erzähltheoretischen Anfänge bis zur strukturalistischen Hauptphase in den 1960er Jahren als komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Traditionen beschreibt und Monika Fludernik die Entwicklung der Narratologie vom Strukturalismus bis in die Gegenwart rekonstruiert. Im Anschluss widmen sich die Beiträge im ersten Hauptteil altbekannten, aber nach wie vor vieldiskutierten narratologischen Konzepten wie dem des impliziten Autors (Wayne C. Booth), der Fokalisierung (J. Hillis Miller) oder – gleich doppelt – des unzuverlässigen Erzählens (Ansgar F. Nünning sowie Tamar Yacobi).

Die unter dem programmatischen Titel »Revisions and Innovations« zusammengefassten Artikel des zweiten Hauptteils hinterfragen herkömmliche narratologische Sichtweisen und etablierte Kategorienbildungen. So schlägt beispielsweise Peter J. Rabinowitz – einer der beiden Herausgeber des Companion – in seinem Beitrag vor, die binäre story/discourse-Opposition bei der Beschreibung narrativer Ereignisreihenfolgen durch eine dritte Kategorie, die des ›Pfads‹ (»path«), zu ergänzen. Denn wird mit dem Begriff ›story‹ die tatsächliche Abfolge der Ereignisse innerhalb der erzählten Welt erfasst und mit dem Begriff ›discourse‹ die Reihenfolge, in der diese Ereignisse erzählt werden, so gibt es bislang keinen Begriff, um die Reihenfolge des subjektiven Erlebens von Figuren zu beschreiben. Ein solcher Begriff sei jedoch notwendig, denn »a character’s order of experience may conform to neither the story order nor the discourse order« (183). Rabinowitz rüttelt mit seinem Vorschlag jedoch ebenso wenig wie die anderen Beiträger des zweiten Hauptteils an den Grundfesten der klassischen Narratologie, so dass die in der Kapitelüberschrift angekündigten ›Revisionen‹ insgesamt sehr moderat ausfallen, und stattdessen das Bemühen im Vordergrund steht, blinde Flecken der Narratologie durch Spezifizierungen und Ergänzungen zu beseitigen.

Ab dem dritten Hauptteil des Companion treten postklassische narratologische Fragestellungen ins Zentrum, wobei zunächst der Zusammenhang zwischen Erzählstrukturen und ihrem historischen und gesellschaftlichen Kontext verhandelt wird (Teil III), bevor Erzählformen jenseits der Literatur thematisiert werden (Teil IV). Die thematische Offenheit der letzten beiden Hauptteile hat zur Folge, dass die Themen und Perspektiven in der zweiten Hälfte des Companion sehr divers sind: James Phelan – der zweite Herausgeber des Bandes – geht z.B. der Frage nach, auf welche Weise Erzählungen von Rezipienten Urteilsbildungen fordern; Gerald Prince befürwortet die stärkere Berücksichtung einer postkolonialen Perspektive bei der narratologischen Theoriebildung; Peter Brooks thematisiert die Bedeutung von Geschichten in der juristischen Praxis und David H. Richter die Übertragbarkeit narratologischer Konzepte auf Bibelerzählungen.

Die Heterogenität der Beiträge ist als Versuch zu betrachten, die Expansion der erzähltheoretischen Forschung in den letzten Jahrzehnten widerzuspiegeln, und ist als solche zu begrüßen. Dennoch entsteht zuweilen der Eindruck einer gewissen Beliebigkeit hinsichtlich der Zusammenstellung der Beiträge – sowohl in Bezug auf deren Auswahl als auch auf deren Zuordnung zu den Kapiteln III bzw. IV. (Wieso gibt es gleich drei Beiträge zu musikalischer Narration? Würde Alison Booths Analyse von Kollektivportraits historischer Persönlichkeiten aus Kapitel III nicht ebenso gut in den IV. Teil – »Beyond Literary Narrative« – passen?) Von einem so ambitionierten Band wie dem Companion, der auf dem Schutzumschlag als »the best available introduction to this vital and contested field« bezeichnet wird, könnte man eine noch systematischere Auswahl und Anordnung der Beiträge erwarten. Den Wert des Companion schmälert diese Schwäche jedoch nur in geringem Maße, da sich die einzelnen Beiträge durch konstant hohe Qualität auszeichnen und durch ihre klare Sprache und Argumentationsstruktur sowie die häufige illustrierende Bezugnahme auf (meist literarische) Erzähltexte leicht nachzuvollziehen sind.

3. Die Routledge Encyclopedia of Narrative Theory

Versteht sich der Companion in erster Linie als Einführung, so will die von David Herman, Manfred Jahn und Marie-Laure Ryan herausgegebene Routledge Encyclopedia of Narrative Theory ein sehr breites Publikum, vom Studenten bis zum Experten, ansprechen. Das Nachschlagewerk enthält 450 alphabetisch angeordnete Einträge zu den Kernkonzepten und Schlüsselbegriffen der Erzähltheorie – sowohl strukturalistischer als auch postklassischer Provenienz. Die stark systematische Ausrichtung findet ihren Ausdruck darin, dass es keine Einträge zu Personen gibt. Die Länge der von über 200 Forschern verfassten Einträge variiert von wenigen Wörtern bei der Definition von Fachtermini (z.B. von »Analepsis« oder »Figural Narration«) bis zu mehrseitigen Essays zur Erläuterung zentraler Konzepte, Ansätze oder Forschungsfelder (z.B. »Plot«, »Science and Narrative«). Die Einträge werden von aufwändigen ›Navigationshilfen‹ flankiert: einer alphabetischen Liste der Lemmata, die auch über die Länge der Einträge informiert; einer zweiten, thematisch strukturierten Auflistung aller Einträge sowie einem sehr umfangreichen, gründlichen und übersichtlichen Index. Diese drei Hilfsmittel erleichtern zusammen mit sinnvollen Querverweisen innerhalb der einzelnen Einträge den Einstieg und die Orientierung und ermöglichen eine systematische Einarbeitung in einzelne Themenbereiche.

Bei der Durchsicht der Schlagwortliste fällt auf, dass der narrative turn in den Geistes- und Kulturwissenschaften in der Encyclopedia sehr viel stärker berücksichtigt wurde als im Companion: Neben dem Eintrag »Narrative Turn in the Humanities« finden sich z.B. auch »Courtroom Narrative«, »Education and Narrative«, »Ethnographic Approaches to Narrative«, »Historiography«, »Institutional Narrative«, »Interdisciplinary Approaches to Narrative«, »Law and Narrative«, »Medicine and Narrative«, »Narrative Therapy«, »Narrative Psychology«, »Psychoanalysis and Narrative« oder »Theology and Narrative«, die sich alle mit Anwendungsbereichen der Erzähltheorie außerhalb klassischer literaturwissenschaftlicher Arbeitsfelder befassen. Einen zweiten deutlich erkennbaren Schwerpunkt bilden kognitionswissenschaftliche Beiträge, u.a. zu »Artificial Intelligence and Narrative«, »Biological Foundations of Narrative«, »Computational Approaches to Narrative«, »Cognitive Narratology«, »Gapping«, »Mental Mapping of Narrative«, »Narrative as Cognitive Instrument«, »Narrative Intelligence«, »Naturalisation«, »Scripts and Schemata« oder »Situation Models«. Die besondere Berücksichtigung beider Bereiche – der interdisziplinären sowie der kognitionswissenschaftlichen Erzähltheorie – ist natürlich kein Nachteil, sondern angesichts der Tatsache, dass gerade aus diesen Bereichen zurzeit die meisten Impulse kommen und hier daher auch der größte Erklärungsbedarf vorliegt, sehr sinnvoll.

Die einzelnen Beiträge folgen im Aufbau zwar nicht einem einheitlichen Muster, sind jedoch sehr übersichtlich strukturiert und ebenso klar formuliert. Einer kurzen Begriffsdefinition folgen begriffs- und sachgeschichtliche Erläuterungen. Lange Einträge werden durch Zwischenüberschriften leicht überschaubar gegliedert. Dem eigentlichen Textkörper der Einträge folgt eine Nennung der wichtigsten Querverweise auf andere Lemmata sowie eine kurze Bibliographie mit einschlägiger – vor allem englischsprachiger, aber auch deutscher und französischer – Forschungsliteratur. So wird die Encyclopedia flexibel einsetzbar: Man kann sowohl terminologische Unsicherheiten beseitigen als auch einen fundierten Überblick über einen Themenbereich gewinnen. Hilfreich ist auch, dass die längeren Beiträge nicht nur aktuelle Bestandsaufnahmen liefern, sondern relevante Debatten und die Entwicklung zentraler Begriffe rekonstruieren, bevor sie zu einer Evaluation der Positionen kommen. Durch die Verbindung systematischer Definitionen mit einer historischen Kontextualisierung werden die Zusammenhänge zwischen den vielfältigen Konzepten verdeutlicht.

4. Fazit

Beide Bände sind allen an narratologischen Fragestellungen Interessierten uneingeschränkt zu empfehlen. Aufgrund der unterschiedlichen Konzeption erfüllen sie jedoch unterschiedliche Aufgaben: Während der Companion einen einführenden Überblick über die Forschungsfelder der Erzähltheorie vermittelt, beantwortet die Encyclopedia konkrete Fragen. Der Companion liefert daher vor allem Anregungen für eine weitere Auseinandersetzung; die Encyclopedia hingegen ist ein Hilfsmittel für Studium und Forschung, das (zumindest) in jedem literaturwissenschaftlichen Arbeitsapparat vertreten sein sollte. Daher ist es sehr erfreulich, dass von der Encyclopedia neben der kostspieligen gebundenen Ausgabe ab Oktober auch eine Taschenbuchausgabe für £29.99 erhältlich sein wird.

Dr. Sandra Heinen

Bergische Universität Wuppertal

Anglistik/Amerikanistik

Anmerkungen

[1] Vgl. z.B. David Herman, Narratologies. New Perspectives on Narrative Analysis, Columbus 1999, Monika Fludernik, Beyond Structuralism in Narratology. Recent Developments and New Horizons in Narrative Theory, in: Anglistik 11 (2000), 83-96, sowie die beiden Bände von Ansgar Nünning & Vera Nünning, Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier 2002 und Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier 2002. [zurück]

2007-10-18

JLTonline ISSN 1862-8990

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How to cite this item:

Sandra Heinen, Bestandsaufnahmen der Erzähltheorie. (Review of: David Herman/Manfred Jahn/Marie-Laure Ryan [eds.], Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, London/New York: Routledge 2005; James Phelan/Peter J. Rabinowitz [eds.], A Companion to Narrative Theory, Malden, MA: Blackwell 2005.)

In: JLTonline (18.10.2007)

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