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Benjamin Gittel

Who’s afraid of big concepts? Literaturwissenschaftler beobachten ihre Basispraktik

Alexander Honold/Rolf Parr (Hg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Lesen. Berlin / Boston: De Gruyter 2018. 674 S. [Preis: EUR 159,95]. ISBN: 3110364670.

Während die anhaltende Konjunktur der Handbücher zuweilen bekanntlich seltsame und spezialistische Blüten treibt, steht die fundamentale Bedeutung des Themas des hier besprochenen »Handbuchs« – so die Selbsteinordnung (3) – außer Frage. Lesen ist als fundamentale Kulturtechnik nicht nur für alle Textwissenschaften grundlegend, sondern auch von kaum zu überschätzender lebensweltlicher Bedeutung in modernen Wissensgesellschaften. Es nimmt daher kaum wunder, dass bereits Handbücher und vergleichbare »kodifizierende Publikationen« (Jörg Schönert) zum Lesen existieren.[1]

Von diesen unterscheidet sich der Band »Grundthemen der Literaturwissenschaft: Lesen« zunächst durch seine schon am Titel erkennbare fachspezifische Verortung. Er gehört zu der noch jungen, von Klaus Stierstorfer herausgegebenen Reihe »Grundthemen der Literaturwissenschaft« und beansprucht, das Lesen erstmals umfassend »aus einer dezidiert literaturwissenschaftlichen und zugleich die Einzelphilologien übergreifenden Perspektive« (20), in einer Verbindung von systematischem und historischem Erkenntnisinteresse, in den Blick zu nehmen. Dabei beschränkt er sich ausdrücklich nicht auf die »Bestandsaufnahme bereits geleisteter Forschung« (21), sondern möchte durch »neuere eigene Forschungen« (ebd.) und innovative Fragestellungen Impulse setzen.

Das dem Handbuch zugrundeliegende Begriffsverständnis von Lesen als »perzeptive und kognitive Verarbeitung von meist schriftbasierten, enkodierten Zeichen« (3, Herv. d. Verf.) umfasst auch das Deuten nicht-sprachlicher kultureller Phänomene wie etwa Geertz՚ balinesische Hahnenkämpfe sowie das ›Lesen im Buch der Natur‹ (vgl. 13f.). Vor dem Hintergrund dieses sehr weiten Begriffs von ›Lesen‹ stellt sich die Frage, warum gerade eine literaturwissenschaftliche Perspektive diesem so grundlegenden Phänomen der Informationsverarbeitung angemessen sein sollte. Die Herausgeber des Bandes geben darauf zwei Antworten, die in dieser Allgemeinheit wohl nur zum Teil überzeugen können: Zum einen seien Literaturwissenschaftler zu einer Erforschung des Lesens berufen, weil Lesen ihre »genuine und unbestrittene Domäne« (20) sei, zum anderen seien »literarische Bestände« besonders »auskunftsfreudige, vielfältige und reflektierte Zeugnisse zur Geschichte des Lesens« (19). Das durchaus löbliche Unterfangen, die »epistemischen und mediengeschichtlichen Voraussetzungen des Lesens sowie die dabei eingesetzten sinnesphysiologischen, kognitiven und kulturellen Prozesse« (ebd.) systematisch darzustellen, legt aus Sicht des Verfassers eine dezidiert literaturwissenschaftliche Perspektive nicht unbedingt nahe, es sei denn es ginge speziell um das literarische Lesen, das Lesen literarischer Texte mit seinen eigenen Praktiken. Diese spielen jedoch in dem Band, dazu später mehr, lediglich eine untergeordnete Rolle.

Die 29 Beiträge des Bandes sind in 3 unterschiedlich große Abschnitte eingeteilt: »Lesen: historische Perspektiven«, »Zentrale Fragestellungen« und »Interdisziplinäre Implikationen und Konzepte«. Der allein 18 Beiträge umfassende Abschnitt »Zentrale Fragestellungen« ist nochmals unterteilt in »Grundlagen«, »Praktiken des Lesens« und »(Selbst-)Beobachtungen des Lesens«, während der Abschnitt zu den historischen Perspektiven lediglich aus einem Beitrag besteht. Im Folgenden sollen einige der insgesamt 29 Beiträge näher vorgestellt werden, die für den Anspruch des Bandes besonders zentral erscheinen.

In seinem umfangreichen, den Abschnitt »Historische Perspektiven« füllenden Beitrag analysiert Jost Schneider Alphabetisierungsquoten, »Gebrauchszusammenhänge[]« (40) und Lesegewohnheiten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen in den fünf flexibel gedachten Epochen »Vorgeschichte«, »Frühgeschichte«, »Feudalistisches Zeitalter«, »Bürgerliches Zeitalter« und »Demokratisch-pluralistisches Zeitalter« und liefert so eine Art Summa seiner bisherigen Forschungen zur ›Sozialgeschichte des Lesens‹. Im Abschnitt »Grundlagen« nimmt Harun Maye die »materielle Organisation von Texten« (105f.) und ihren Zusammenhang mit vielfältigen lesebegleitenden Operationen wie Annotieren, Blättern, Exzerpieren, Scrollen in den Blick, um eine Mediengeschichte des Lesens zu erzählen. Oliver Jahraus zeichnet die Konjunktur von Theorien des Lesens seit den 1960er und 1970er Jahren als eine Geschichte einer (politischen) »Revolte« gegen autor- und werkorientierte Fachtraditionen nach, in der sich die Frage nach dem Leser und dem Lesen »als Schicksalsfrage der Literaturwissenschaft« (136) erweist. Hinter dieser drastischen Formulierung steht die Befürchtung, der literarische Text als Untersuchungsgegenstand verschwinde gewissermaßen hinter den vielfältigen »Verarbeitungshandlung[en]« (ebd.) der Leser, eine Problematik, der sich, dem Titel nach, der Aufsatz »Lesen als Interpretieren« von Host-Jürgen Gerigk zuwendet. Tatsächlich geht es Gerigk auch um das sogenannte Beliebigkeitsproblem (Lutz Danneberg) und die Grenzen angemessener Interpretationen, sein Lösungsvorschlag gelangt jedoch über vage und sachlich fragwürdige Formulierungen – »[d]er literarische Text reguliert aufgrund seiner Natur die Kreativität des Autors wie auch die Hermeneutik des Lesers« (162) – kaum hinaus.

Im Abschnitt »Praktiken des Lesens« gibt Matthias Bickenbach einen lesenswerten Überblick über performative Aspekte des Lesens, insbesondere über Formen des seit dem 18. Jahrhundert marginalisierten lauten Lesens, und ihre historische Bewertung. Explizit benannt wird dabei von Bickenbach die Schwierigkeit, dass literaturwissenschaftliche Studien »eher von einzelnen, berühmten und gelehrten Lesern […], seien es lesende Autoren oder fiktive Leser etwa in Romanen des 18. Jahrhunderts« (257), ausgehen. Corinna Schlicht widmet sich den sozial-situativen Aspekten des Lesens und unterscheidet vier Konstellationen des häufig auch ökonomisch motivierten geselligen Lesens: »(1) Produzentinnen und Produzenten lesen Rezipientinnen und Rezipienten vor, (2) privilegierte Rezipierende lesen einer Gemeinschaft vor, (3) Produzierende lesen sich gegenseitig vor und (4) Rezipierende lesen gemeinsam.« (284) Andere Beiträge dieses Abschnitts widmen sich im weitesten Sinne interpretatorischen Aspekten bestimmter individueller Lektüreformen, etwa der Relektüre (Alexandra Potzen), dem ›Parallel-Lesen‹ mehrerer Texte (Jörg Wesche), dem Lesen mit gesteigerten oder emphatischen Erwartungen (»magische Lektüren«, Jürgen Nelles) oder dem »Lesen von Text/Bild-Korrelationen« (Silke Horstkotte).

Der zwei Beiträge umfassende Abschnitt »(Selbst-)Beobachtungen des Lesens« beschäftigt sich zum einen mit visuellen Repräsentationen des Lesens und ihren Deutungsschwierigkeiten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert (Peter Friedrich). Zum anderen thematisiert er »Lesende Romanfiguren« (Friedhelm Marx), in denen sich der Leser des Romans, im Gegensatz zu visuellen Darstellungen aber auch zu Lesenden Dramenfiguren »gespiegelt, verzerrt, idealisiert im Buch wiedererkennen« (386) kann.

Der letzte Abschnitt des Handbuchs trägt den Titel »Interdisziplinäre Implikationen und Konzepte« und soll abschließend Perspektiven anderer Disziplinen berücksichtigen. Verfasst sind die Beiträge jedoch ausnahmslos von Philologen, so dass das Lesen, wie die Herausgeber etwas kryptisch formulieren, »stets ausgehend vom Ort der Literatur- und im Weiteren der Kulturwissenschaft«, aber »in der Sicht einer ganzen Reihe von Einzeldisziplinen« (24) gezeigt werden soll. Dementsprechend perspektivenemulierend und selektiv fallen die Beiträge teilweise aus. Der Beitrag zu »Psychologische[n] Dimensionen des Lesens« (Joachim Pfeiffer) beschäftigt sich vorwiegend mit der Psychoanalyse und psychoanalytisch inspirierten Rezeptionstheorien; ein Abschnitt zur »Empirische[n] Leserpsychologie und kognitionspsychologische[n] Ansätzen« (464) beschränkt sich, mit starkem Fokus auf deutschsprachige Beiträge, auf die Forschung des 20. Jahrhunderts. Während der anschauliche Beitrag zum »Lesen aus Sicht der Kognitionswissenschaften« (Renate Brosch) relativ schnell auf das Lesen von fiktionaler Literatur fokussiert und eher den Forschungsstand der »Kognitive[n] Literaturwissenschaft« (426) darstellt, spielt Literatur als Textsorte im textlinguistischen Beitrag (Beate Lingnau) nur eine untergeordnete Rolle. Ähnliches gilt für den Beitrag zur didaktischen Leseforschung (Ulrike Preußer), der die Position vertritt, dass »literarische Kompetenz«, sich nicht als »Spezialfall von Lesekompetenz« (537) betrachten lasse. Andere Beiträge des Abschnitts sind keiner disziplingebundenen Perspektive verpflichtet: Während Martin Doll und Thomas Ernst das Lesen und Schreiben im Zeitalter der Digitalisierung thematisieren, untersucht Julia Bertschik bestimmte kulturwissenschaftliche Deutungspraktiken, die (metaphorisch) als Lesen beschrieben werden (»Kultur als Text«, 569). Den »Metaphern des Lesens« als solchen widmet sich schließlich Monika Schmitz-Emans.

Insgesamt hinterlässt der Band einen gemischten Eindruck: Was die Mehrzahl der primär historisch ausgerichteten Beiträge angeht, beeindruckt das akkumulierte Detailwissen bei gleichzeitigem Mut, auch längerfristige Entwicklungen synthetisierend und entproblematisierend darzustellen, wie es einem Handbuch angemessen ist. Was hingegen den systematischen Anspruch des Bandes angeht, leidet der Band zum einen darunter, dass gerade die Beiträge, die thematisch erwartbar entscheidende Abgrenzungen und Unterscheidungen vornehmen müssten, dies nur eingeschränkt leisten. Zum anderen, so scheint mir, wurde durch den etwas merkwürdigen Anspruch ›das Lesen schlechthin‹ von Philologen darstellen zu lassen, die Chance vertan, bestimmte Aspekte stärker in den Blick zu nehmen, die das Lesen von Literatur betreffen. Solche Aspekte wurden in den letzten Jahrzehnten insbesondere im englischen Sprachraum zum einen unter dem Label »literary appreciation« (N.E. Carroll, P. Lamarque, St. H. Olsen u.a.), aber auch in der empirischen Rezeptionsforschung (E.M. Koopman, D. Kuiken, R.A. Mar, David S. Miall; K. Oatley), vielfältig verhandelt.

Zu guter Letzt wäre ein stringenterer Aufbau und eine Unterscheidung zwischen (a) performativen (laut/leise, langsam/schnell etc.), (b) sozial-situativen Aspekten des Lesens, d.h. in welchen Praxiszusammenhängen, an welchen Orten, in welchen sozialen Umgebungen und nach welchen Vorschriften wird gelesen, (c) medialen Aspekten und (d) interpretatorischen Aspekten des Lesens wünschenswert gewesen. Ohne vorherige Klärung können sich Begriffe wie »Lektüreformen«, »Leseweisen«, »Lektüretechniken«, »Lektürepraktiken« oder »Praktiken des Lesens«, die im Band passim zu finden sind, auf jeden dieser Aspekte beziehen, die sich natürlich oft ursächlich bedingen, jedoch analytisch besser zu trennen sind. Dennoch stellt der informative und größtenteils gut verständliche, schon allein durch seinen Umfang beeindruckende Band »Lesen« eine willkommene Einladung an alle dar, die sich mit diesem »Grundthem[a]« (nicht nur) der Literaturwissenschaft weiter beschäftigen möchten.

Anmerkungen

[1] Zu nennen ist hier v.a. das vierbändige Handbook of Reading Research (1984-2011), das durch seine lange Publikationsgeschichte auch Einblicke in die englischsprachige Forschungsgeschichte gewährt. Weiterhin zu nennen sind: The Oxford Handbook of Reading (2015) herausgegeben v. Alexander Pollatsek and Rebecca Treiman, The Science of Reading: A Handbook (2005) herausgegeben v. Margaret J. Snowling u. Charles Hulme, A History of Reading in the West (1999) herausgegeben von Guglielmo Cavallo und Roger Chartier sowie für den deutschen Markt das u.a. von Erich Schön herausgegebene Handbuch Lesen (1999). [zurück]

2019-11-20

JLTonline ISSN 1862-8990

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Benjamin Gittel, Who’s afraid of big concepts? Literaturwissenschaftler beobachten ihre Basispraktik (Review of: Alexander Honold/Rolf Parr (Hg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft. Lesen, Berlin/Boston 2018)

In: JLTonline (20.11.2019)

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